Franz spricht. Elisabeth Hauer

Franz spricht - Elisabeth Hauer


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sie nahm das Kind in Empfang, meistens bis zum Nachmittag oder Abend. Diesmal war es Rudi, ein Bub von sechs Jahren, der schon seit einiger Zeit zu ihr kam, sie wusste, dass er sie gern hatte. Der Abschied von seiner Mutter fiel ihm nicht schwer. Was machen wir, fragte er Dagmar sofort, als er ihre Wohnung betrat. Lass mich nachdenken, sagte Dagmar, ich wusste ja nicht, das du kommst. Jetzt weißt du es, antwortete er, was machen wir? Denk du nach, sagte Dagmar, vielleicht fällt dir was ein, ich mach dir erst einmal ein Brot.

      Rudi ging in das Zimmer, das den Tageskindern gehörte. Er probierte einiges Spielzug, aus, ließ es fallen und liegen, er nahm ein Spiel aus dem Kasten, machte den Deckel auf und nicht wieder zu, er stellte sich ans Fenster und entdeckte auf der Straße ein Auto, das ihn kurz interessierte. Weißt du schon was, rief er zu Dagmar in die Küche. Nein, du isst zuerst.

      Rudi betrachtete kritisch den Belag des Brotes, aß es viel zu rasch, sagte zu Dagmar, was ist jetzt? Wir werden einen Ausflug machen, sagte sie, hast du feste Schuhe an?

      Sie nahmen die Straßenbahn und dann den Bus, der sie hinausführte aus der Stadt. Es begann zu regnen, hörte aber bald wieder auf. Der Himmel blieb bewölkt, es ging ein starker Wind. Erst jetzt sah Dagmar Rudi genau an, für einen Ausflug war er nicht richtig angezogen, ein T-Shirt, ein dünner Pulli, vielleicht war es nicht genug. Sie wollte nicht mehr aussteigen. Wenn es wieder regnet, dachte sie, retten wir uns in ein Gasthaus, es wird schon gehen. Rudi sah zum Fenster hinaus, die Scheibe war beschlagen, er zeichnete mit den Fingern darauf ein Gesicht. Ist dir nicht kalt, fragte Dagmar. Rudi schüttelte heftig den Kopf.

      Dort wo sie ausstiegen, war Dagmar schon einmal gewesen, aber damals war das Wetter schön. Der Weg den sie einschlugen, um zu einer Wiese zu kommen, war schmutzig, Rudi übersprang an Dagmars Hand breite Pfützen, das gefiel ihm. Als es wieder zu regnen begann, als sein Pulli feucht wurde, steckte er seinen Kopf unter Dagmars Arm. Ich will zurück, sagte er. Du hast recht, antwortete Dagmar. Komm, rasch, wir laufen. Das gefiel ihm wieder. Gleich bei der Bushaltestelle gab es ein Gasthaus, außer Atem kamen sie dort an. Sie handelten aus, was Rudi bestellen durfte. Er bekam, was er wollte. Dagmar sah ihm zu und vergaß fast ihr Essen. Als Rudi endlich fertig, lehnte er sich müde zurück.

      Weißt du was, fragte er.

      Sag es.

      Weißt du was, keiner heißt mehr Rudi.

      Und das macht dir was aus?

      Schon. Ich will auch nicht mehr Rudi heißen.

      Warum?

      Weil keiner mehr so heißt.

      Wie heißt denn dein Papa?

      Rudi.

      Und dein Opa?

      Rudi.

      Das ist doch schön.

      Nein, nicht schön.

      Warum?

      Weil die schon alt sind. Keiner heißt mehr Rudi.

      Das glaub ich nicht. Lass mich nachdenken, bitte. Ja, ich kenn auch jemanden, der so heißt.

      Wie alt ist der?

      So alt wie du. Genauso.

      Und sein Papa und sein Opa?

      Keine Ahnung, sagte Dagmar. Wahrscheinlich hat seinen Eltern dieser Name gefallen. Glaub ich nicht, sagte Rudi.

      Nach dieser Diskussion blieb Rudi still und hatte keine Fragen mehr. Sie fuhren bald nach Hause, noch im Autobus schlief Rudi ein. In ihrer Wohnung legte ihn Dagmar auf die Couch, setzte sich neben ihn und begann zu lesen. Das Buch in ihrer Hand war schwer, Dagmar hatte wenig Hoffnung, damit fertig zu werden. Mehrmals schon hatte sie damit begonnen, weiter gelesen, nach einiger Zeit den Anfang wieder vergessen. Sie wollte nicht aufgeben. Sie wollte auch das Leben, das sie jetzt hatte, nicht aufgeben. Aber sie war damit nicht mehr so zufrieden wie früher. Wenn die Kinder sie gegen Abend verließen, wenn die Mütter mit ihrem Kind an der Hand weggingen und sie noch vom Stiegenhaus her ihre lebhaften Fragen und die raschen, eifrigen Antworten der Kinder hörte, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nun allein war und allein bleiben würde. Die Kinder sind toll und sie mögen mich, dachte Dagmar, aber sie gehören mir nicht.

      Als Rudi abgeholt wurde, war er ausgeschlafen und munter. Von der Tür her winkte er Dagmar noch einmal lebhaft zu. Mama, sagte er, du musst auch mit mir so einen Ausflug machen. Wenn die Sonne scheint, du musst.

      Nachts regnete es wieder. Nach Träumen, an die sie sich nicht erinnerte, wachte Dagmar immer wieder auf. Dann fiel ihr Heinz K. ein, den sie vergessen wollte und nicht vergessen konnte. Was soll das noch, was soll das noch, dachte sie, es gibt ihn nicht mehr. Auch mich gibt es nicht mehr, zumindest nicht so, wie ich war. Und wie ich heute bin, weiß ich nicht genau.

      Morgen, an einem Tag voller Kinder, wird wieder alles anders sein, tröstete sie sich.

      Ich werde Gemüse kochen, Gemüse ist wichtig.

      Ich kann dich diese Woche nicht besuchen, Papa, sagte Miriam am Telefon. Klara ist krank.

      Was fehlt ihr, hat sie sich verkühlt?

      Ich weiß es nicht. Sie hat Fieber. Ich habe den Arzt angerufen.

      Wann kommt er, hoffentlich bald.

      Am Abend, vorher kann er nicht.

      Wie hoch ist das Fieber?

      Nicht so schlimm, siebenunddreissig vier.

      Das steigt noch bis zum Abend.

      Was soll ich machen, ich muß warten.

      Ruf einen anderen Arzt an.

      Sicher nicht, unser Arzt kennt Klara seit ihrer Geburt.

      Du bleibst doch morgen zu Hause.

      Unmöglich. Ich habe schon jemanden organisiert, der nach Klara sieht.

      Wen?

      Ist doch egal, du kennst sie nicht.

      Bestell sie ab, ich werde kommen.

      Das ist lieb von dir, aber ich kann nichts mehr ändern. Du willst nichts mehr ändern.

      Hör auf, immer dieses Misstrauen, es ist eben so.

      Also nicht. Ruf mich an, wenn der Arzt da war.

      Ich ruf dich an.

      Sicher?

      Ja, ich ruf dich an.

      Als Miriam nach Hause kam, fieberte Klara hoch. Die junge Frau, die sich manchmal, wenn Miriam es sich nicht anders einteilen konnte, um Klara kümmerte, war sichtlich froh, sich verabschieden zu können. Ich hoffe, der Arzt kommt bald, sagte sie. Klara schlief unruhig, ihre Stirn war heiß, immer wieder stieß sie die Decke weg. Mama, sagte sie, dann war sie still, dann wieder Mama. Miriam saß am Rand des Bettes und hielt Klaras Hand. Sie hatte alle Türen offen gelassen, um das Läuten des Arztes zu hören.

      Er kam sehr spät. Nachdem er Klara untersucht hatte, verschrieb er fiebersenkende Zäpfchen mit der Auflage, jede Stunde die Temperatur zu messen. Er würde am nächsten Tag wiederkommen. Wenn das Fieber nicht sinke, müsse man Klara ins Krankenhaus bringen.

      Miriam saß fast die ganze Nacht an Klaras Bett. Sehr spät fiel ihr ein, sie müsse ihren Vater anrufen. Sie bagatellisierte vor ihm Klaras Zustand, konnte ihn aber nicht überzeugen. Ruf mich nochmals an, verlangte er. Sie tat es nicht. Erst als sie immer wieder einnickte, ging sie zu Bett. Sie stellte den Wecker und sah von neuem zu Klara, deren Schlaf voll Unruhe war. Das Wort Krankenhaus hämmerte in ihrem Kopf. Kurz bevor sie erwachte, träumte sie von dem Mann, den sie in einem Krankenhaus getroffen hatte, der Klaras Vater war, den sie aus ihrem Leben gestrichen hatte.

      Die ersten Monate nach der Trennung von Heinz waren die schlimmsten. Wenn sie vom Büro nach Hause kam in die leere Wohnung. Wenn sie überall noch Dinge von ihm fand, die er vergessen hatte oder einfach nicht hatte mitnehmen wollen. Wenn sie die Bücher ansah, die er ihr überlassen hatte, weil in seiner neuen kleinen Wohnung kein Platz für sie war. Und abends. Das leere Bett neben ihrem, flach, ohne Kissen und Decke,


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