Franz spricht. Elisabeth Hauer

Franz spricht - Elisabeth Hauer


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Paul trieb sich oft mit einer Gruppe von Arbeiterkindern herum, jener Wald gehörte zu ihrem Revier, Franz war immer dabei.

      Wir liefen voraus, die Gruppe sollte nachkommen. Warum ich damals mitgelaufen bin.

      Aus Neugierde vielleicht. Ich wollte wissen, was sie dort machten. Der Wald war mir immer unheimlich gewesen, hohe alte Bäume, viel Gestrüpp, keine Wege. Paul ging voraus. Du musst leiser sein, sagte er zu mir, du erschreckst sonst die Tiere. Welche Tiere es dort gab, wollte ich wissen. Rehe und Hasen, antwortete er. Und Füchse. Und viele kleine Tiere. Und Vögel. Siehst du dort den Vogel auf dem Ast. Das ist eine Tannenmeise. Sie rührt sich nicht. Sei ganz still. Sie ist schwarz und weiß und hat einen roten Bauch. Jetzt fliegt sie weg. Hast du sie gesehen. Ich hatte sie nicht gesehen, aber ich sagte Ja. Merk sie dir, sagte Paul. Manchmal bin ich auch allein hier. Dann sind meine Schritte kaum zu hören, und ich sehe viele verschiedene Vögel. Zu Hause schlage ich dann im Lexikon nach, um zu wissen, zu welcher Art die Vögel gehören.

      Ich fand das komisch. Paul mit zehn Jahren. Ich hatte noch nie ein Lexikon zur Hand genommen. Das änderte sich später, ich muss es hier einfügen. Aber damals. Bald kamen die anderen Buben. Mit ihnen Franz. Auf einer Lichtung begann ein wildes Indianerspiel. Selbstverständlich gehörte ich zu den Weißen und Franz band mich an den Marterpfahl. Er hatte leichtes Spiel mit mir, ich wehrte mich nicht, alles war mir fremd und unheimlich. Paul, der eifrig mitgetan hatte, band mich bald los. Das ist, glaub ich, nichts für dich, sagte er. Es war nichts für mich. Ich ging allein nach Hause. Die anderen tobten weiter. Wieso ist Paul so, und dann wieder ganz anders, dachte ich. Das dachte ich später noch oft.

      Miriam. Für sie war Paul ein Spielkamerad, ein Lehrer, ein Freund. Mir, als Vater, ist es nie geglückt, Miriam so zum Lachen zu bringen, sie so fröhlich zu machen. Manchmal war ich fast eifersüchtig. Dass Paul selbst keine Kinder hatte, war ein Unglück. Aber kein Wunder, bei der Frau. Auch meine Frau hatte Paul sehr gern. Einmal sagte sie zu mir: Paul hätte dir was geben können. Was, fragte ich erstaunt. Ein Stück von seinem Herzen, sagte sie. Damals verstand ich sie nicht, ich war gekränkt.

      Heute will ich Miriam noch anrufen. Es könnte ihr vielleicht gut tun, mit mir zu reden, Dinge, die sie nicht allein schafft, mit mir zu besprechen. Sie könnte mich ja besuchen und Klara mitbringen. Klara könnte vielleicht bei mir schlafen, ich würde sie morgen in den Kindergarten bringen.

      Ich kann es mir nicht abgewöhnen, Dinge, die mich persönlich betreffen, in diesen Bericht einfließen zu lassen, statt nur über meine Beziehung zu Paul zu schreiben. Aber ich denke, es gibt ein Bild von mir, ein anderes, das Miriam, oder wer immer es lesen mag, noch nicht kennt. Das ist kein Fehler.

      Ein einziges Mal hatte Heinz K. vor Dagmar jene Frau erwähnt, mit der er einige Jahre lang verbunden gewesen war. Es war ein Abend in Dagmars Wohnung, beide hatten mehr als die üblichen zwei Gläser Rotwein getrunken. Heinz K. war, entgegen seiner Art, sehr gesprächig gewesen, er hatte rasch die Themen gewechselt, die Dagmar interessierten, und war schließlich auf Eva zu sprechen gekommen. Er nannte nicht ihren Namen, schilderte aber die Villa, in der sie nun allein wohnte und erklärte, warum er sie verlassen hatte. Er sagte zu Dagmar – es war das einzige Mal –, dass er sehr froh sei, sie gefunden zu haben, er wisse nicht, wie es sonst mit ihm weitergegangen wäre. Dagmar hatte überrascht und voller Staunen zugehört. Sie überlegte lang, ob sie ihn beim nächsten Treffen noch einmal nach dieser Frau fragen sollte. Ihre Neugierde war groß, und sie fragte. Ein anderer Heinz K. als jener des vergangenen Abends zeigte sich ungehalten und abweisend und verlangte von Dagmar, sie möge, was er gesagt habe, vergessen, es sei nicht mehr von Bedeutung.

      Dagmar bewegte immer mehr die Frage, ob Heinz K.s Zustand damals, als er jene Frau verlassen hatte, ähnlich gewesen war wie jetzt, als er mit einem gestohlenen Auto verunglückte.

      Ihre Schwester hatte sie freundlich begrüßt. Sie fragte nicht sofort nach dem Grund von Dagmars Kommen, bemerkte aber, dass sie verändert war. Am dritten Tag erzählte Dagmar von sich aus die Geschichte. Ihre Schwester meinte, es würde schwierig sein, diese Frau zu finden. Aber wie Dagmar glaube, sei Heinz K. einmal verheiratet gewesen. Vielleicht könne sich Dagmar mit seiner Exfrau in Verbindung setzen. Die sei leichter zu finden. Sie wisse auf jeden Fall mehr über Heinz K.s Charakter, vielleicht kenne sie auch jene Frau aus der Villa. Dagmar verwarf sofort diese Möglichkeit. Aber immer öfter musste sie daran denken.

      Es war die eigenartige Weise wie Heinz K. seine Hände hielt, die sie faszinierte. Wenn er saß, verschränkte er sie auf seinem Schoß – Miriam selbst tat es später auch –, dabei senkten und hoben sich immer wieder seine Finger. So saß er, noch nicht neunzehn Jahre alt, auf einer Bank im Park, im Garten eines einfachen Gasthauses, bei einem Rockkonzert. Saß ihm Miriam gegenüber, sah er sie unentwegt an, versenkte seine Blicke in ihrem Gesicht, redete kaum. Hast du was, fragte sie ihn oft, und er schüttelte den Kopf. Lass mich dich anschauen, sagte er dann, mehr brauch ich nicht. Sie freute sich über seine Worte, aber sie verstand ihn nicht ganz. Das geschah oft. Er konnte fröhlich sein, übertrieben fröhlich. Dann packte er sie, schwenkte sie wild herum, stellte sie auf den Boden, hob sie wieder auf, bis ihr schwindlig wurde. Gleich danach war er seltsam still, setzte sich irgendwo hin und blieb eine Weile stumm.

      Eines Tages, es war Sommer und ziemlich heiß, gingen sie schwimmen. An einer ruhigen Stelle des Flusses, wo es keine gefährlichen Strömungen gab. Sie hatten sich vorgenommen, nachher am Ufer zu bleiben, im Gras zu liegen, die mitgebrachten Brote zu essen, Obstsaft zu trinken, die Zeit nicht wahrzunehmen. Nachdem sie aus dem Wasser gestiegen waren und der Ostwind über ihre feuchten Köper strich, nachdem sie soviel von ihrer Liebe genommen hatten, wie Miriam es erlaubte, sprang Heinz auf.

      Ich geh noch einmal hinein, sagte er.

      Warum jetzt, fragte Miriam. Wir wollten doch was essen.

      Später, sagte er und war schon weg.

      Sie ärgerte sich, suchte einen schattigen Platz für Brote und Getränke, setzte sich daneben hin, nahm einen kleinen Bissen und wieder einen, trank aus der Flasche mit kleinen Schlucken, und dachte dann, sie hätte auf ihn warten sollen. Die Zeit verging, er war nun schon viel länger weg, als sie angenommen hatte. Zorn gegen ihn stieg in ihr auf. Sie legte sich auf ihr Badetuch, schloss die Augen und schlief nach wenigen Minuten ein. Als sie erwachte, weil ihr kalt geworden war, war Heinz noch immer fort. Sie blickte um sich. Brote und Getränke waren unberührt. Heinz’ Kleider lagen noch da. In Panik sprang sie auf und lief zum Ufer. Kein Schwimmer war zu sehen, nur ein Ruderboot wurde langsam von der Strömung getragen. Miriam wollte mit lauten Rufen die Insassen auf sich aufmerksam machen, vielleicht hatten sie Heinz gesehen, aber ihre Rufe erreichten die Leute nicht. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Weinend packte sie alles, was ihr gehörte, in ihre Tasche, die Kleider von Heinz ließ sie liegen. Sie fuhr nach Hause, sie weinte noch in der Straßenbahn, alle Leute sahen sie an. Ihrer Mutter erzählte sie, was geschehen war. Du hättest sofort die Polizei rufen müssen, meinte sie.

      Sie ging zum Telefon und rief an. Miriam stand zitternd neben ihr. Die Polizei versprach der Sache nachzugehen.

      Fünf Minuten später kam der Anruf von Heinz. Er befinde sich in einer Telefonzelle in der Nähe des Flusses, er wolle wissen, warum Miriam nicht auf ihn gewartet habe. Die Mutter reichte Miriam den Hörer, aber sie konnte nicht sprechen. Nach einigen unfreundlichen Worten an Heinz bat die Mutter die Polizei, die Suche abzubrechen.

      Später versuchte Heinz Miriam zu erklären, warum er sich verspätet hatte. Er habe, und er wisse nicht wieso, nach einigen wenigen Tempi das Gefühl gehabt, er müsse das Wasser sofort verlassen. Deshalb konnte er nicht zur Uferwiese, wo Miriam auf ihn wartete, zurückkehren. In seiner nassen Badehose sei er eine Weile sinnlos am Ufer entlanggelaufen, hin und her und hin und her, bis er sich erschöpft auf einen Baumstumpf niederließ. Er wisse nicht, was er sich dabei gedacht habe, es sei jene unerklärliche Angst in ihm gewesen, die er nicht abschütteln konnte, die nur ganz langsam nachließ, bis er sich endlich auf den Weg zurück machte, müde, erschöpft.

      Miriam fragte, ob er ein solches Gefühl schon einmal gehabt hatte.

      Er verneinte.

      Damals war Miriam sechzehn Jahre alt.

      Franz

      spricht


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