Die Forsyte-Saga. John Galsworthy
zu wollen.
Swithin warf nur einen Blick auf das Antlitz und verließ das Zimmer wieder; bei dem Anblick, sagte er hernach, wäre ihm sehr sonderbar zumute gewesen. Er ging hinunter, wobei das ganze Haus schütterte, nahm seinen Hut und stieg in seinen Wagen, ohne dem Kutscher irgend eine Richtung anzugeben. Dieser fuhr ihn nach Haus, und dort saß er den ganzen Abend in seinem Stuhl, ohne sich zu regen.
Bei Tisch nahm er nichts als ein Rebhuhn und einen stattlichen Becher Champagner ...
Der alte Jolyon stand mit gefalteten Händen am Fußende des Bettes. Er allein von allen im Zimmer erinnerte sich noch des Todes seiner Mutter, und obwohl er Ann anblickte, weilten seine Gedanken doch bei ihr. Ann war alt geworden, aber schließlich war der Tod zu ihr gekommen – der Tod kam zu allen! Nichts in seinem Gesicht bewegte sich, sein Blick schien von weither zu kommen.
Neben ihm stand Tante Hester. Sie weinte jetzt nicht mehr, die Tränen waren versiegt – ihre Natur wehrte sich gegen einen weiteren Kraftaufwand; mit ineinander geschlungenen Händen blickte sie, nicht auf Ann, sondern von einer Seite zur andern, als suche sie auf irgend eine Art der Anstrengung zu entrinnen, sich das Geschehene als wirklich vorzustellen.
Von allen Geschwistern schien James am tiefsten bewegt. Tränen rollten die gleichlaufenden Furchen seines hageren Gesichtes herab; wem sollte er nun sein Leid klagen, er wußte es nicht. Juley war nicht zu brauchen, und Hester noch weniger geeignet! Er empfand Anns Tod mehr, als er je gedacht hatte; darüber würde er wochenlang nicht hinwegkommen!
Tante Hester stahl sich jetzt hinaus, und Tante Juley fing an hin und her zu gehen und das ›Notwendige zu besorgen‹, wobei sie zweimal gegen etwas anstieß. Aus seiner Träumerei geweckt, einer Träumerei über längst vergangene Zeiten, warf der alte Jolyon ihr einen strengen Blick zu und ging fort. James blieb allein an dem Bett zurück; verstohlen um sich blickend, um zu sehen ob er nicht beobachtet werde, beugte er sich mit seiner langen Gestalt herab und drückte einen Kuß auf die Stirn der Toten; dann verließ auch er hastig das Zimmer. Im Flur traf er das Mädchen und begann sie über die Beerdigung auszufragen, doch als er merkte, daß sie nichts wußte, beklagte er sich bitterlich, daß wenn niemand sich darum kümmere, sicher alles verkehrt sein werde. Sie sollten lieber Soames holen lassen – der wisse in all solchen Sachen Bescheid; ihr Herr wäre wahrscheinlich sehr mitgenommen und würde selber Hilfe brauchen; und die Damen, die verstanden das nicht – hatten kein Geschick dafür! Kein Wunder, wenn sie auch noch krank würden. Lieber sollte sie gleich nach dem Doktor schicken, es sei am besten beizeiten etwas zu tun. Seiner Ansicht nach war Schwester Ann nicht in der besten Obhut gewesen; hätte sie Blank gehabt, so wäre sie jetzt noch am Leben. Wenn sie irgend einen Rat brauchte, sollte sie nur ja nach Park Lane schicken. Sein Wagen stehe zum Begräbnis natürlich zur Verfügung. Ob er wohl ein Glas Wein und einen Zwieback haben könne? – er hatte nicht gefrühstückt!
Die Tage vor dem Begräbnis vergingen ruhig. Man wußte natürlich längst, daß Tante Ann ihr kleines Vermögen Timothy vermacht hatte. Es gab also nicht den geringsten Grund zur Aufregung. Soames war alleiniger Testamentsvollstrecker, traf alle Anordnungen und schickte an alle männlichen Mitglieder der Familie wie üblich folgende Einladung:
»An –
Sie werden gebeten, der Beisetzung von Miß Ann Forsyte auf dem Friedhof von Highgate am 1. Okt. mittags 12 Uhr beizuwohnen. Abfahrt der Wagen 10,45 von ›The Bower‹, Bayswater Road. Blumenspenden auf Wunsch verbeten.
U. A. W. G.«
Der Morgen kam kalt, mit einem hohen, grauen Londoner Himmel, und um halbelf fuhr der erste Wagen, es war der von James, vor. Darin saßen James und sein Schwiegersohn Dartie, ein untersetzter Mann mit breiter Brust, eng in einen schwarzen Gehrock eingeknöpft. Sein bleiches, ziemlich fettes Gesicht war mit einem dunkeln, schön gekräuselten Schnurrbart und jenem unvermeidlichen Ansatz eines Backenbartes geziert, der, allen Rasierversuchen trotzend, der Beweis für eine tief wurzelnde Eigenart des Barbiers zu sein scheint, und hauptsächlich bei Männern zu bemerken ist, die spekulieren.
In seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker empfing Soames die Gäste, denn Timothy hütete noch das Bett; er wollte nach dem Begräbnis aufstehen, und Tante Juley und Hester sollten erst herunterkommen, wenn alles vorüber war und das Frühstück für jeden, der Lust hatte zurückzukommen, bereit stand. Der nächste war Roger, der infolge seiner Gicht noch hinkte, von dreien seiner Söhne – Roger, Eustace und Thomas – begleitet. George, sein vierter Sohn, erschien fast unmittelbar darauf in einer Droschke und fragte Soames im Vorübergehen, wie das Leichenbitteramt ihm behage.
Sie konnten einander nicht leiden.
Dann kamen zwei Haymans – Giles und Jesse – sie sprachen kein Wort und waren sehr sorgfältig gekleidet, mit neuen Bügelfalten in ihren schwarzen Beinkleidern. Darauf der alte Jolyon allein. Nach ihm Nicholas mit seinem frischen Gesicht und sorgfältig verhüllter Lebhaftigkeit bei jeder Bewegung seines Kopfes und Körpers. Ihn begleiteten, bescheiden und schüchtern, drei seiner Söhne. Swithin Forsyte und Bosinney langten im selben Augenblick an, und jeder wollte mit einer Verbeugung dem andern den Vortritt lassen, aber als die Tür geöffnet wurde, versuchten sie gleichzeitig einzutreten. In der Halle fingen sie von neuem mit ihren Entschuldigungen an, und Swithin, der seine im Eifer etwas in Unordnung geratene Halsbinde zurechtrückte, stieg sehr langsam die Treppe hinauf. Hierauf kamen noch zwei Haymans, drei verheiratete Söhne von Nicholas zusammen mit Tweetyman, Spender und Warry, den Männern der verheirateten Töchter der Forsytes und Haymans. Nun war die Versammlung vollzählig, im ganzen fünfundzwanzig Personen; außer Timothy und dem jungen Jolyon fehlte kein männliches Mitglied der Familie.
Als sie in den rotgrünen Salon eintraten, dessen Ausstattung einen so lebhaften Rahmen für ihre ungewohnte Kleidung bildete, suchte jeder in dem Wunsche das feierliche Schwarz seiner Beinkleider zu verbergen, nach einem Platz. Sie sahen in diesem Schwarz und in der Farbe ihrer Handschuhe etwas Unpassendes – eine Art von Übertreibung ihrer Gefühle; und viele warfen entrüstete Blicke voll geheimen Neides auf Bosinney, der keine Handschuhe hatte und graue Beinkleider trug. Es entstand ein unterdrücktes Gesumme allgemeiner Unterhaltung, aber keiner sprach von der Verstorbenen, sondern jeder erkundigte sich nach dem andern, wie um auf diese Weise indirekt auf dies Ereignis hinzuweisen, in dessen Anlaß sie gekommen waren.
Doch plötzlich sagte James:
»Nun ist es wohl Zeit aufzubrechen.«
Sie gingen hinunter und stiegen, zwei zu zwei, genau in der vorher festgesetzten Reihenfolge, in die Wagen.
Der Leichenwagen fuhr im Schritt; die Equipagen folgten langsam hinterher. In der ersten saß der alte Jolyon mit Nicholas; in der zweiten die Zwillingsbrüder, Swithin und James; in der dritten Roger mit dem jungen Roger; Soames, der junge Nicholas, George und Bosinney folgten in der vierten. In jedem der übrigen Wagen, acht an der Zahl, fuhren je drei oder vier von der Familie; hinter ihnen kam das Coupé des Doktors, dann in gebührendem Abstand die Droschken mit den Angestellten und der Dienerschaft der Familie, und ganz zum Schluß ein Wagen, in dem niemand saß, der aber die Gesamtzahl bis auf dreizehn brachte.
So lange der Zug auf dem Fahrweg von Bayswater Road blieb, ging es im Schritt, als er jedoch in die unbedeutenderen Nebenstraßen einbog, kam er bald in Trab, den er mit Unterbrechungen in den vornehmeren Straßen beibehielt, bis er das Ziel erreichte. In dem ersten Wagen sprachen der alte Jolyon und Nicholas von ihren Testamenten. Im zweiten waren die Zwillinge nach einem einzigen Versuch sich zu unterhalten, in tiefes Schweigen versunken; beide waren ziemlich taub, und die Anstrengung, sich verständlich zu machen, war zu groß. Nur einmal unterbrach James das Schweigen:
»Ich muß mich doch einmal irgendwo nach einer Grabstätte umsehen. Was für Anordnungen hast du getroffen, Swithin?«
Und Swithin starrte ihn entsetzt an und erwiderte: »Sprich mir nicht von solchen Sachen!« Im dritten Wagen wurde, während man hin und wieder hinaussah, um festzustellen, wie weit man gekommen war, eine unzusammenhängende Unterhaltung geführt. George bemerkte: »Na, es war hohe Zeit, daß die arme alte Dame ›sich davon machte‹.« Er glaubte nicht daran, daß Leute über siebzig noch leben konnten. Der junge Nicholas erwiderte mild, daß diese Regel auf die Forsytes nicht gut anzuwenden wäre. George