Siechenhaus. Mark Ammern

Siechenhaus - Mark Ammern


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      Siechenhaus

      Prosa

      Mark Ammern

      AutorenVerlag Matern

      Die im Mittelalter entstandene Institution Siechenhaus (Seuchenhaus), an die nur noch ein Straßenname erinnert, wird einem Touristenführer zum Anlass, zu erwägen, was ein Siechenhaus heute sein könnte, um es den Besuchern der Stadt zeigen und präsentieren zu können. Er bietet den Touristen an, eine WildCard zu nutzen, um ungehemmt projezieren zu können. Weil diese Einladung fehlschlägt, nutzt er selber eine WildCard und führt die Besucher in eine gerontologische Klinik, in der bereits eine Frau aus der Abteilung Öffentlichkeit die Ankömmlinge erwartet …

      Diese Handlungsperspektive bietet den Auftakt von Ammerns Prosa „Siechenhaus“, die noch viele weitere Überraschungen bereithält, z.B. eine Hospizstation, die in der Klinik als Himmel gilt. Erzählt wird keine traditionelle Geschichte. Stattdessen rücken Gespräche ins Zentrum, unter Beteiligung der Besucher. Außer der thematisch naheliegenden demografischen Entwicklung kommt zur Sprache, weshalb der Ort in hervorragender Weise ohne Kultur auskommt, ohne auf Künste verzichten zu müssen.

      Die Prosa ist vom Umfang her nicht so ausladend wie herkömmliche Bücher. Inklusive Titelei käme man auf ca. 35 Seiten. Deshalb ist der Preis moderat gehalten.

      1. ePub-Auflage 2014, Version 1.0

       Copyright © 2014 AutorenVerlag Matern

       Cover-Bild: tululli, „Omma“, CC-Lizenz (BY 2.0)

       [http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de

       aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de]

       Schriften: www.linuxlibertine.org,

       www.softmaker.de (Cover)

       ISBN 978-3-929899-21-4 (ePub)

       ISBN 978-3-929899-22-1 (Kindle)

       Alle Rechte vorbehalten

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      I

      Könnte ich mich der Wirklichkeit wie einer Haltestelle annähern, auf die eine Straßenbahn zusteuert, in der ich gelangweilt sitze und vor mich hinschaue, als gäbe es außerhalb von mir nichts zu entdecken? Ich müsste fantastisch sein, also imaginär, und doch würde dies nicht gelingen. Es würden zwar Schienen existierten, doch nicht über den Abgrund zwischen Imaginärem und Wirklichem. Nicht einmal in den Abgrund könnte ich stürzen, weil es ihn als gesonderten Grenzbereich aus Raum und Zeit gar nicht gäbe. Es ist eine besondere Eigenschaft von Menschen, der eigenen Sprache auf den Leim zu gehen, dem Schleim. Wie ließe sich mit der produzierten Bildhaftigkeit umgehen? Ausspucken? Mit der Schuhsohle breittreten? Und auf Regen, gar auf Hagel hoffen? Oder auf eine städtische Kehrmaschine?

      Es geht Richtung Siechenhaus. Eine der Haltestellen. Der kann ich mich mit der Straßenbahn annähern. Und ich kann Gedanken verschwenden. Z.B. daran, dass die Relation von Haltestelle zu Haltestelle eine andere ist, als die von einem Beobachter zu Beobachtetem. Und von Wort zu Sache. Aber ich bin ganz und gar in der Wirklichkeit, zu der auch Imaginäres zählt, doch als Imaginäres, Flüchtiges, bloß Eingebildetes. Dies sagt kaum etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus: Zu dieser gehört, dass ich in Spucke und Schleim untergehen kann. Sollte es in Straßenbahnen Rettungswesten geben, die klappweise aus der Decke, vom Himmel fallen? Es ist selbstverständlich, mehr oder weniger, dass sich Wirklichkeit unterscheiden kann. Angemessen wäre es, über Wirklichkeiten zu sprechen, in Abhängigkeit von persönlich getroffenen oder sich ergebenden Mengen von Existenzannahmen.

      Folge ich auf meiner Fahrt einem Antrieb, meinem Organismus? Und wenn ich ‚ich‘ sage, handelt es sich bloß um eine Oberfläche, die vorspiegelt als auch in eine Tiefe blicken lässt, die vor allem tierisch ist? Ok ok, die Sprache, ich liebe sie, diese Blasen, doch wer wäre schon bereit, sich auf sowas einzulassen? Ist es nicht üblich, in Spucke und Schleim zu schwimmen, ja sogar in einer Straßenbahn rettungslos zu ersaufen, weil sich während der Fahrt nicht die Türen öffnen lassen?

      Übrigens ist von dem, worüber ich hier erzähle, nichts erfunden. Nicht dass ich nicht erfinden könnte. Doch offensichtlich will ich nicht. Wer eine fabulierte Geschichte wünscht, der hat Pech gehabt. Es geht ums Siechenhaus, diese Haltestelle, die kaum jemand kennt, zwischen Brückenplatz und Pauluskirche. Es ist klar, dass den Weg nicht jeder nehmen darf. Ohne abgestempelte Fahrkarte wäre es zwar möglich, mit der Straßenbahn zu fahren, doch zu empfehlen wäre dies nicht. Man hat den Beförderungregeln nach zu zahlen, falls man ohne gültiges Ticket erwischt wird, eine empfindbare Strafe zu erdulden. Oder fängt die Vorfreude erst mit der Strafe an? Wäre sie ein geeignetes Mittel, um das Siechenhaus genießen zu können?

      II

      Verrückt? Ich bin ihr Touristenführer, jemand, der ihnen besondere Orte zeigt. Vor allem das Siechenhaus. Übrig geblieben ist zwar nur eine schlanke Seitenstraße, die erinnern lassen könnte, falls man denn ahnte, woran. Und die Haltestelle der Straßenbahn. Immerhin! Sie können ungehemmt projezieren. Ist das nichts? Stellen sie sich einfach vor, was immer sie wollen. Ist das kein Angebot? Und sie werden in jedem Fall Recht haben und auch behalten, denn ihre angestrengte Fantasie könnte ohnehin nicht wahr werden noch kann sie ihnen jemand nehmen!

      Alten Chroniken nach hatte es gleich nebenan einen Galgen gegeben. Aber davon würde ich mich nicht beeinflussen lassen. Könnte ein Siechenhaus nicht auch etwas Schönes sein? Etwas Erhebendes? Dies träfe zwar auch für den Galgen zu, aber daran müssen sie nun wirklich nicht denken. Beschränken wir uns auf das Siechenhaus, dies ist eventuell schwer genug, so wie sie es sehen, falls sie möchten.

      Und lassen sie die Vergangenheit ruhen. Aussätzige hatte es vor jeder alten Stadt gegeben. Daran ist nichts Besonderes. Spannender als zu fragen, wie es 1720 vor dem Einsturz ausgesehen haben könnte, wäre, zu überlegen, wodurch es sich heute auszeichnen würde. Machen Sie sich frei!

      Um ihnen ein Beipiel zu geben: Bis in die Sechziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg hinweg, hatte es eine Gaststätte Siechenhaus gegeben, die bei den Bürgern der Stadt, ebenfalls alten Chroniken nach, durchaus beliebt war. Ausgehen, Essen, Kegeln und Tanzen konnten zu einem ordentlichen Siechenhaus passen. Erst als Beatmusik und lange Haare – ein lokal ansässiger Bürger hätte vermutlich die neuen Drogen hervorgehoben, die morgens auffindbaren Einwegspritzen in seinem Vorgarten –, die Generationen auseinanderriss, war das Idyll nicht mehr zu halten.

      Krieg ist zwar nicht mein Thema, aber es kann doch erstaunen, dass ein solcher die Menschen weitaus stärker zusammengebracht und -gehalten hatte, als der spätere Aufschwung. Bis in die beginnenden Sechziger Jahre hinein wurde wie eine verschwiegene Familie gelebt, innerhalb der mögliche Nestbeschmutzungen härter zu ahnden waren, als Menschenrechtsverletzungen. In einer Familie gibt es keine Menschen, sondern Brüder, Schwestern, Elten, Großeltern, Cousins … Unter ihnen gelten andere Regeln: Zusammenhalt und Hierarchie. Dass man auch als Mensch gelten könnte, war von ihnen noch gar nicht entdeckt!

      Mit ‚Siechenhaus‘ ergattern sie eine WildCard, die ihnen alles erfüllt, was immer sie befürchten oder sich wünschen. Wahrscheinlich nur in ihrer Fantasie, doch ist dies nichts?

      III

      Eine WildCard ist Ihnen zu viel des Guten? Auch dafür gibt es eine Lösung. Schauen sie sich an der Haltestelle in aller Ruhe um, auch wenn es nichts Außergewöhnliches zu bemerken gibt, und lassen sie mich machen. Sie werden sehen, was sie davon haben. Und doch ergibt sich ein schwerwiegendes Problem:

      Ist es ihnen möglich, mir zu folgen, hinein ins Siechenhaus? Würden sie mir Glauben schenken? Auch unter Menschen ist es nicht unüblich, über etwas zu sprechen, das nicht gegenwärtig ist. Auf Treppenabsätzen, einer Parkbank, bei Kaffee, Bier oder Tee. Lässt sich auf diese Weise nicht viel leichter sprechen? Sie haben die WildCard ausgeschlagen! Ich kann aber meine nutzen. Falls ihnen dies nicht gefällt, bitte ich sie, jetzt zu gehen.

      IV


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