Der Steinsammler. Hannes Sonntag
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Hannes Sonntag
Der Steinsammler
Literatur der Zukunft
Inhalt
1
Es ist gar nicht zu sagen, wie peinlich mir alles war – ich meine, in der Zeit nach seinem Tod. Und ich gebe gerne zu, dass ich tat, was in vergleichbarer Lage auch andere getan haben: ich stritt ab, diese Person näher gekannt zu haben, behauptete, mich nicht genau zu erinnern, widersprach in wesentlichen Punkten oder verweigerte ganz einfach die Auskunft.
Als aber nach und nach die Vermutungen immer absurder wurden, Unwahrscheinliches mit noch Unwahrscheinlicherem erklärt wurde, so dass Sache und Person buchstäblich darin ertranken, rang ich mich dazu durch, meine eigene Rolle vor allem als die des Zeugen zu definieren – und zu reden. Wieso auch sollte ich mich für irgendetwas rechtfertigen? Der einzige Vorwurf, den man mir hätte machen können, bestand darin, überhaupt mit diesem merkwürdigen Mann befreundet gewesen zu sein oder genauer: nach einer langen Phase des Beobachtens und Zögerns mein Interesse an ihm nicht länger zurückgehalten zu haben. Jedenfalls ist richtig, dass ich von einem gewissen Zeitpunkt an eine Distanzierung nicht mehr wirklich erwogen und den Dingen ihren Lauf gelassen habe.
Wenn ich hier also offen spreche, dann um der Wahrheit willen (so, wie ich sie erlebte) und vielleicht noch mehr in meinem Bestreben, mich des Themas zu entledigen. Anderes als ich an dieser Stelle vorbringe, habe ich grundsätzlich zu der ganzen Sache nicht zu sagen.
2
Alles war nass. Ich sehe mich meinen Regenschirm schräg gegen das Wetter und die Augen aufs Pflaster halten, um auf dessen jahrhundertelang abgetretener glitschiger Oberfläche nicht auszurutschen. An Weg war dabei nichts zu beachten, denn ich kannte das Viertel mit all seinen Straßen und Gassen, seitdem ich hier sehr unerwartet als Student eine kleine, aber komfortable Wohnung geerbt hatte.
Warum ich in meinem mechanischen Hinlaufen innehielt, weiß ich heute wieder genau. Über den Häuserdächern erschien ein Regenbogen, wie er auch in dieser küstennahen Gegend selten ist. Und das war der Moment, wo ich den Mann zum ersten Mal sah. Ein wenig seitlich, links von mir, in einem schmalen Vorgarten, stand er, ein eher kleiner, untersetzter Mensch, vollkommen reglos, als sei er eine von Kopf bis Fuß mit Wasser übergossene Puppe. Doch auf seiner Glatze lag ein weißes Taschentuch, und bei genauerem Anschauen bemerkte ich ihn atmen. Erst jetzt wurde mir klar, worauf er seinen Blick starr ausgerichtet hielt: in einer Rasenmulde häuften sich Steine, vielleicht zwei, drei Schubkarren voll, irgendetwas Grauschwarzes – das mir ohne das Gestarre des Mannes nie aufgefallen wäre.
Ich fand mich auffällig und grüßte leicht herüber. Doch die stämmige Puppe blieb unerreichbar. So warf ich einen flüchtigen Blick auf die Fassade des maroden alten Hauses und ließ die Steine mit ihrem Mann samt Regenbogen hinter mir zurück.
3
Es dauerte einige Wochen bis mir auffiel, dass sich die Kartographie des Viertels in mir veränderte. Als seien gelegentlich zarte Bleigewichte unter meine Schuhe montiert, lief es sich schwerer und im Wortsinn anhaltender, wenn ich bestimmte Straßen passierte, während sich andernorts mein Gang erleichterte und gleichzeitig mein Blick über ganze Häuserzeilen glitt wie über gar nicht wirkliche, sondern rein gedachte Profile. Und es dauerte nochmals (obwohl ich jetzt zunehmend hartnäckiger versuchte, der Beobachtung auf den Grund zu kommen), bis ich die scheinbar zufälligen Koordinaten so geordnet und gebündelt hatte, dass ein Muster daraus wurde. Eine Formel, die mich selbst verblüffte, da sie etwas weiterspann, was ich als Zufallsbild verbucht und einfach vergessen hatte: den bauchigen Mann im Regen, der hinter meinem Rücken zum Magneten meiner Alltagswege geworden war. Dabei, glaube ich, war ich diese ganze Zeit über nicht ein einziges Mal mehr an seinem Haus vorbeigekommen.
4
Nun aber suchte ich die Begegnung, und sie war bald und ohne Aufwand zu haben.
Ich sah ihn stehen, nach Dienstschluss im späten Nachmittag, hoch auf einer Leiter. Doch die Stelle im Mauerwerk, an der er arbeitete, befand sich immer noch deutlich über seinem Kopf, so dass er sich wie in Anbetung eines Unsichtbaren nach oben reckte. Dabei schleifte sein vorgewölbter Bauch an der Wand und sein Hemd zog sich aus der Hose.
Von meinem ungünstigen Standort aus vermuteteich richtig: er versuchte einen Stein einzufügen. Denn zwischendurch ließ der Mann seine linke Hand mitsamt einem Stein bis auf die oberste Leitersprosse sinken, während er rechts zu einer ganzarmigen Kehre ausholte, um sich den Schweiß abzuwischen.
Das geschah in gleicher Weise nach weiteren und offenbar ähnlich vergeblichen Versuchen. Und irgendwann hörte ich auch, von einem kleinen Wechselwind herübergetragen, sein heiseres Murmeln – bis er endlich für Sekunden zu erstarren schien, um dann ganz plötzlich aus der Stille den Stein mit gezieltem Schwung gegen seine Arbeitshand zu schlagen. Ich sah an deren augenblicklichem Krümmen, wie stark der Schmerz sein musste, vernahm aber keinen Laut, weder Aufschrei noch Stöhnen. Nur drehte der Dicke sich leicht seitwärts und stampfte die Leiter hinunter. Wie vor Wochen drehte ich bei und machte mich verschwinden.
5
Ich erkannte die Haltung gleich. Der Körper berührte das Regal, eine fette schwarze Brille klammertein den Nasenflügeln, Glatze stauchte sich in die Schultern. Knapp über Kopf liefen seine Hände zwischen den Konservendosen – wie balzende pelzige Tiere. Geschlagene Tiere, wenn man die tief violetten Schwellungen als Beleg für ihr Schicksal nahm.
Er war es, zweifellos, schnelle Nahrung für sich organisierend, aber fühlbar fremd unter den Titeln und Artikeln, unbeholfen vor dem neonbunten Licht der Oberflächen. Ich machte mich im Kreis der Eintöpfe (die ich verabscheue) aus dem Nichts in seiner Nähe zu schaffen, las Etiketten und Haltbarkeitshinweise. Bis er seitlich mit mir zusammenstieß. Wir sahen uns an und murmelten Knappes an Entschuldigung. Sein Gesicht verzog sich nicht im mindesten. Es war von festem dunkelroten Fleisch, beherrscht von zwei kleinen, kugelrunden blauen Augen, die durch das starke Glas in seiner Brille kampfnah und gleichzeitig wie hinter dem Fenster eines Aquariums wirkten. Dabei schienen sie inwendig auf unsichtbaren Streichhölzern geschient, denn anstatt sie zu bewegen, bewegte er den ganzen Kopf. Unwillkürlich hatte ich die Idee eines Hais, der im falschen Körper gefangen war.
Ich weiß nicht, was und wie viel er von mir wahrnahm. Auf meine Versuche, ihn nach unserer Kollision mit ein paar verbalen Alltagsfetzen zu füttern, reagierte er jedenfalls nicht.
6
Aber ich staunte, wie stark sich das Bild des Mannes nun in mir veränderte. Obgleich er doch äußerst sparsam mit mir umgegangen war, konnte ich – im sicheren Besitz einer inneren Nahaufnahme – ganz anders mit ihm umgehen. Vielleicht ähnlich wie im Falle eines exotischen Tiers, das man in einem Zoo erstmals wirklich lebend gesehen hat. Meine Scheu, an seinem Haus entlangzugehen, wich beinahe ganz, und tatsächlich bekam ich ihn einige Male zu Gesicht. Der Jäger in mir genoss die Spur.
Dann mischte sich ein lächerlicher Zufall ein. Ich wurde Zeuge, wie der kompakte Narr einen gut babygroßen Findling im Arm hielt und – vorsichtig, als ob er ihn nicht schädigen dürfe – versuchte, ihn an eine andere Stelle zu tragen. Aus seinem nach vorn gekrümmten Oberkörper drang ein andauerndes Stöhnen, das sich plötzlich in einem Schrei entlud, als vor meinen Augen das Steinkind dumpf aufschlagend zu Boden ging und mit einigen Drehungen nach rechts zur Seite rollte. Den Mann warf