Iss oder stirb (nicht)!. Martina Salomon
Titelseite
Martina Salomon
Iss oder stirb (nicht)!
Leykam
Gestatten, ich bin Omnivore
Allesfresser klingt einfach zu banal. Ich zähle nicht zur rasch wachsenden Kundengruppe für „Free from“-Produkte. Dabei passe ich perfekt ins Schema der Zielgruppe: Frau, nicht mehr ganz jung, höhere Sozialschicht mit ansprechendem Haushaltseinkommen. Aus diesem Milieu rekrutieren sich auffällig viele der neuen Ernährungsbesorgten. Sie sind eine der interessantesten Konsumentenschichten für Handel und Industrie.
Welchen Irrtümern sitzen wir auf, wenn wir den neuesten Ernährungstrends nachlaufen? Wer profitiert davon, wer profiliert sich damit? Davon handelt diese Streitschrift.
Mir ist bewusst, dass ich damit die Hälfte meiner allerbesten Freundinnen (und ein paar Freunde) sowie meine Geschwister vor den Kopf stoße. Sie werden mir verzeihen, und ich koche weiterhin mit Begeisterung für sie, auch wenn das neuerdings nicht mehr so einfach ist. Aber es ist Zeit, Unsinn als solchen zu benennen, Mythen zu entzaubern und Geschäftemacherei mit Humbug zu enttarnen.
Die Leiden der Oberschicht
Achtung, die Weltuntergangspropheten spucken Ihnen in die Suppe – oder eigentlich in jedes Essen. Brot, Milch, Fleisch? Kann Ihre Gesundheit gefährden, macht krank, dick und dumm. Genuss ohne Reue war gestern. Müsste Jesus heute in der Wüste ein Wunder vollbringen und Tausende mit Fisch und Brot versorgen, würden viele Jünger fragen, ob das Brot glutenfrei sei. Etliche würden als Veganer den Fisch entrüstet ablehnen oder danach zu ihrem Basenpulver greifen.
Ernährung ist eines der Megathemen einer übersättigten Gesellschaft – und Essen ohne Schuldgefühle fast unmöglich. Wobei es beim Essen wie beim Medienkonsum ist: Die Schere zwischen jenen, die jeden Schrott in sich hineinstopfen, und den gut informierten Wählerischen, deren Essen ans Sektiererische grenzt, geht immer weiter auf. Der Handel hat darauf reagiert und bietet einerseits den „Preishammer“ an, andererseits die Luxuslinie: möglichst nachhaltig/bio/regional – sowie „free from“ für die steigende Zahl eingebildeter Kranker.
Wer sich den Luxus leisten kann, hoch konzentriert um den eigenen Nabel zu kreisen, der findet mittlerweile für jedes Bauchgrimmen eine logische Erklärung, eine kleine Verschwörungstheorie und jedenfalls das dazu passende Diätkonzept. Laut einer Umfrage mutmaßt bereits jeder dritte Österreicher – knapp drei Millionen (!) –, an einer Unverträglichkeit, also entweder an einer Allergie oder an einer Intoleranz zu laborieren. Eine echte Nahrungsmittelallergie kann tatsächlich lebensgefährlich sein, tritt jedoch Gott sei Dank nur sehr selten auf. Ein bis drei Prozent der Österreicher sind davon betroffen (wovon wiederum nur ein einstelliger Prozentsatz schwere Symptome aufweist). Bei Kindern wächst sich das häufig wieder aus. Was die Intoleranzen (Histamine, Milchzucker, Fruktose, Gluten) betrifft, so gehen die Schätzungen weit auseinander. Denn Intoleranzen sind eine ziemlich subjektive Angelegenheit und eigentlich kein echtes Krankheitsbild, sondern eher eine Befindlichkeitsstörung.
Diesen neuen Empfindsamen wird meist viel zu schnell eine Diät empfohlen. Selbst Bürger, denen gar nichts fehlt, konsumieren plötzlich für sie völlig nutzlose, aber deutlich teurere Lebensmittel.
Essensverzicht ist sexy und gilt als neuer Lustfaktor einer Gesellschaft, die noch nie Hunger leiden musste. Die Entsagungsmissionare (© Guido Tartarotti) sind unter uns und permanente Mahnung für ignorante Allesfresser.
Ohnehin ist die obligate Reiswaffel längst zum globalen Markenzeichen lässiger Stadtneurotikerinnen geworden. Eine der heimischen Handelsketten lässt das fade Kunstprodukt sogar mit „Sex in the City“-Ikone Sarah Jessica Parker bewerben. Passt. Hollywood-Actrice ist das richtige Signal für alle Foodies und Prinzessinnen auf der Erbse! Sogar veganes Schmalz gibt’s schon zu kaufen. Geht natürlich nur auf glutenfreiem Brot. (Schon probiert, und es hat, zugegeben, erstaunlich „echt“ geschmeckt.) Die tollsten – und künstlichsten – Ersatzprodukte werden derzeit für Veganer produziert: vegane Würste, vegane Burger, ja sogar vegane Krebsschwänze – ein gefundenes Fressen für Food Designer. Frankenstein lässt grüßen!
Kleine Typologie des urbanen Essensneurotikers
Ein echter Bobo (bourgeoiser Bohemien) fährt neuerdings Rad statt Porsche, aß bis vor Kurzem nur Eier von der Biobäuerin (Geheimtipp!), hat aber nun vorübergehend auf vegan, also Tierprodukte-frei, umgestellt und hält Gentechnik für Teufelswerk – ohne freilich an ein höheres Wesen zu glauben. In seiner Luxusküche (mit Weinkühlschrank) bekocht er Freundesrunden, unter der Woche bleibt der Herd aber kalt. Als Kreativer kommt er ja erst spätabends heim. Er ist vom „Ende des Wachstums“ überzeugt, pilgert gelegentlich zu einer Energetikerin und beschäftigt sich hingebungsvoll mit seinen diversen Unverträglichkeiten. Gemeinsames Erkennungszeichen der weiblichen Spezies: Wasserflasche immer in Griffweite, als wäre man auf einer dauerhaften Wüstentour.
Praktischerweise lassen sich die Ticks der Essensbetulichen immer leichter ausleben. Man trifft die gleichgesinnte, saturierte Oberschicht, die gern ein bisschen mehr fürs Essen ausgibt, im Veggie-Restaurant. Sogar einen Allergiker-Supermarkt und ein Allergiker-Café gibt’s mittlerweile in Wien. Anders als bei Bertolt Brecht in der „Dreigroschenoper“ kommt jetzt die Moral vor dem Fressen. Essen wird zur Weltanschauung. Man darf sich über andere erhaben fühlen, die mit ihrem Körper – ach was: mit der ganzen Welt! – weniger achtsam umgehen.
Wer sich über dieses Lebensgefühl milde lustig macht, kann nur ein neoliberaler Industrieknecht sein, oder? Denn beim (gesunden) Essen hört sich in Österreich der Spaß auf. Hier herrscht heiliger Ernst! Und eine unglaublich gute Verdienstchance für die Lebensmittelindustrie. Denn eine überängstliche Gesellschaft, bedacht auf das eigene Wohlergehen, lässt sich einreden, dass wir uns durch Lebensmittel schleichend vergiften.
Ist das Essen so ungesund wie noch nie? Unsinn, genau das Gegenteil ist der Fall! Noch nie in der Geschichte war es so einfach, sich gesund und sicher zu ernähren.
Richtige und problematische
Diagnosen
Früher kam kaum jemand auf die Idee, eine Nahrungsmittelallergie zu diagnostizieren. Die Betroffenen, die es natürlich gab und weiterhin gibt, hatten bis zu ihrem richtigen Befund oft einen langen Leidensweg hinter sich. Doch jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus: So klagte Kollegin L. bei ihrem Hausarzt über ständige Bauchschmerzen. Man riet ihr ohne Umschweife, auf bestimmte Lebensmittel zu verzichten, weil es sich vielleicht um eine Nahrungsmittelunverträglichkeit handle. Doch die Schmerzen blieben, und die ohnehin dünne Frau nahm weiter so stark ab, dass sogar Magersucht diagnostiziert wurde. Erst nach einem Jahr erkannte man die eher banale Ursache: ein Magengeschwür. Eine Krankheit, die irgendwie aus der Mode gekommen ist, während derzeit jeder, der auf sich hält, auf irgendein Lebensmittel verzichten muss oder zumindest ausprobiert, ob es ihm (meist ihr – Nahrungsphobiker sind eher weiblichen Geschlechts) dann besser geht.
Ein neues Allheilmittel ist da! So riet eine Promi-Schönheitsmedizinerin in der Arztsprechstunde einer Boulevardzeitung gegen Schweißfüße doch glatt: „Probieren Sie, ein Jahr lang Gluten wegzulassen.“ Gluten, das sind überhaupt ganz spezielle Bösewichte im Essen, dabei sind die sogenannten Klebereiweiße dafür verantwortlich, dass unsere Brote und Backwaren so schön aufgehen, locker und flaumig werden. Ausgerechnet die Gesundheitsapostel nehmen übrigens recht viel davon auf, weil sie auch als Füllmittel für Light-Produkte und als Fleischersatz (Seitan) verwendet werden.
Bei rund einem Prozent der Bevölkerung können diese Proteine aber tatsächlich zu einer entzündlichen Erkrankung der Darmschleimhaut führen, was sehr selten tödlich verlaufen kann. Menschen mit Zöliakie sind wirklich krank, müssen auf Gluten verzichten. Bei allen anderen nützt ein Konsum glutenfreier Produkte nur denen, die sie erzeugen. Der Handel freut sich über jährliche Umsatzzuwächse im zweistelligen Prozentbereich. Gern werden dabei auch Waren als glutenfrei (oder auch laktosefrei) ausgeschildert, die ohnehin nicht im Verdacht stehen, selbiges