Beatrice – Rückkehr ins Buchland. Markus Walther
Markus Walther
Walther, Markus: Beatrice. Rückkehr ins Buchland. Hamburg, Lindwurm Verlag 2021
Neuausgabe 2021
PDF-E-Book: ISBN 978-3-948695-65-1
Epub-E-Book: ISBN 978-3-948695-64-4
Hardcover-Ausgabe: ISBN 978-3-86282-401-4
Paperback: ISBN 978-3-948695-63-7
Lektorat und Satz: ds, acabus Verlag
Umschlaggestaltung: © Petra Rudolf
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Für Horst †
Dann aber kamen drei Punkte …
Gedanken aus Papier
Die Welt legte wieder ihr Gewand aus Buchstaben an. Schwarze Lettern, die auf weißem Papier die Geschicke der Menschen formten. Nicht greifbar und doch fühlbar sangen die Worte im Konzert der Gefühle, entfalteten ihre spezielle, lautlose Magie.
Und schon ließ Beatrice ihre Realität hinter sich zurück, vergaß das kleine Zimmer, die staubigen Möbel und das Bett, auf dem sie lag. Sie folgte den Zeilen, ließ sich führen und verführen, trieb selbstverloren in den fast vergessenen Gedanken einer Träumerin, die einst zu Stift und Papier gegriffen hatte.
Es war, als würde sie nach Hause kommen, denn sie kannte den Text, hatte ihn wieder und wieder gelesen, ihn in sich aufgenommen, bis ins letzte Detail zu begreifen versucht. Ja, versucht. Aber nie hatte sie es geschafft.
Auf dem Cover stand Buchland. Einen treffenderen Titel hätte es nicht haben können, denn diese Geschichte, die zwischen dem Einband gefangen war, handelte von einem Land voller Bücher. Aber genauso gut hätte das Buch auch Beatrice heißen können, denn diese Geschichte, die manchmal aus dem hellbraunen Einband entfliehen wollte, handelte ebenso von Bea. Das war schwer zu begreifen. Insbesondere, weil sie selbst jene Träumerin gewesen war, die das Buch nach einer wahren Begebenheit geschrieben hatte. Eine wahre Begebenheit, die erst durch dieses Buch wahr geworden war.
Darüber nachzugrübeln war, als ob man sich das eigene Hirn verknotete. Es kam ihr vor wie diese Bilder, in denen die Perspektive dem Betrachter einen Streich spielte: eine Treppe, die rechteckig verlief und nicht an Höhe gewann, weil sie in sich geschlossen war. Vielleicht war es aber auch nur eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss.
Auf dem Nachttisch lag ein Brief. Der Briefkopf war schlicht gehalten: Adressat, Absender, Betreff. Darunter ein paar freundliche, auffordernde Zeilen der Verlegerin. Nach zwei Jahren dürfe man doch endlich mit der erhofften Fortsetzung rechnen.
Nein, durfte man nicht. Beatrice war sich sicher, dass sie keine Fortsetzung von Buchland schreiben wollte. Diese Geschichte war abgeschlossen. Es war alles erzählt. Und nur des bisschen Geldes wegen, würde sie sich nichts aus den Fingern saugen. Außerdem …
Außerdem fiel ihr diesbezüglich auch gar nichts ein.
Also schrieb sie keine neuen Kapitel in das Buchland. Sie schlug nur die alten wieder und immer wieder auf, ließ auf diese Weise abermals die vergangenen Geschehnisse Revue passieren. Sie durchwanderte nochmals die endlosen Gänge zwischen den Bücherregalen, ritt auf Pegasos, parlierte mit Goethe und besuchte die Kammer der ungeschriebenen Bücher.
Manche dieser gedruckten Erinnerungen lasteten schwer. Sie drückten auf ihren Brustkorb, schnürten ihr die Luft ab. Es war, als würde ein Gewicht …
„Bea“, flüsterte jemand, „Bea. Du bist schon wieder beim Lesen eingeschlafen.“
Benommen blinzelte Beatrice, strampelte und zappelte dabei ein wenig. Mit einem leisen Rascheln und einem anschließenden plumpsenden Geräusch fiel das Buch von ihrem Oberkörper. „Was’n?“ Ach ja, sie lag im Bett.
Die Matratze knarzte etwas, als sie sich schlaftrunken aufrichtete. Traumwelt, Buchwelt und das wirkliche Leben reichten einander gerade die Hände, grüßten sich höflich, nur um nach ein paar Minuten wieder getrennte Wege zu gehen.
Beatrice stand auf, ging die zwei Schritte zum Fenster, öffnete es weit und sog die kühle Luft des Morgens ein. Auf der dunklen Innenseite ihrer geschlossenen Augenlider tanzten bunte Flecken im Takt der Sonnenstrahlen.
Ingo stand auch auf, kam ihr nach, schmiegte sich an sie und hauchte ihr sachte einen Kuss hinter das Ohr. „Träumerle, Morpheus Arme haben dich noch nicht richtig losgelassen, was?“
Sie ließ die Augen für ein paar weitere kostbare Sekunden geschlossen und reckte ihr Gesicht dem Tag entgegen. „Ich habe bis heute nicht begriffen, warum man mit dem Träumen aufhören soll, wenn man wach geworden ist.“
„Du hast wieder die halbe Nacht gelesen“, stellte Ingo fest. Es lag ein winziger Vorwurf darin. „Kennst du die Story nicht langsam in- und auswendig? Findest du es nicht ein wenig eitel, ständig im eigenen Werk zu schmökern?“
„Ich lese ja auch noch anderes“, rechtfertigte sich Bea. Was hatte es mit Eitelkeit zu tun, wenn man die rätselhaftesten Ereignisse des eigenen Lebens zu ergründen versuchte? Sie löste sich aus Ingos Umarmung, um das Buch aufzuheben und sorgsam, fast liebevoll, zuzuschlagen. „Ich habe in der letzten Woche fünf Bücher gelesen.“
Ingo brummte daraufhin etwas. Es war nicht eindeutig zu verstehen, ob es Worte waren oder nur ein unartikuliertes Grunzen. Als sich Bea nicht die Mühe machte nachzufragen, sagte er leise aber deutlich: „Suchtverhalten. Das ist Suchtverhalten. Du bist ein Bücherjunkie.“ Das war nicht scherzhaft gemeint. Über das Thema Sucht würde Ingo niemals auch nur eine lustige Bemerkung über die Lippen kommen.
„Halb so wild“, sagte Bea. „Wäre ich Floristin, hätte ich jeden Tag mit Blumen zu tun. In der Vase auf unserem Esstisch stünde trotzdem ein Strauß. Ich bin nun halt eine Buchhändlerin in einem Antiquariat. Da gehört das Lesen einfach zum Beruf.“
„Wie du meinst.“ Ingo strich sich mit leidlichem Erfolg über die struppigen Haare. „Ich geh’ unter die Dusche. Wird Zeit, dass wir in die Puschen kommen. Heut’ ist noch viel zu tun.“
Viel zu tun. Ja, das stimmte. Sie wollten sich endlich dazu aufraffen, ihren Keller auszumisten, um einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen.
„Fangen wir direkt nach dem Frühstück an?“ Bea fragte so emotionslos, wie es ihr nur möglich war. Trotzdem hatte sie dieses leichte Zittern in der Stimme. „Oder fangen wir damit heut’ Nachmittag nach der Arbeit an? Wir haben eh nur noch zwei Stunden, bis wir los müssen. Wir könnten stattdessen etwas gemütlicher Kaffee trinken.“
Ingo stand schon im Bad, drehte sich langsam zu ihr um. Seine Augen verrieten diese Traurigkeit, die Bea so sehr fürchtete. Es war jene Art der Traurigkeit, die einem das Herz zerspringen lassen wollte; jene Art der Traurigkeit, die alles wie ein Malstrom mitreißen konnte. „Sollen wir’s noch länger aufschieben? Du siehst nicht so aus, als würde dir das gut tun.“
„Mir?“
„Dir.