Meditation ist nicht, was Sie denken. Jon Kabat-Zinn

Meditation ist nicht, was Sie denken - Jon Kabat-Zinn


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die sich der Poesie als Sprache des Herzens und des Geistes widmen. Die größten Dichter haben sich – so wie die größten Yogis und Lehrer der meditativen Traditionen – einer tiefen inneren Erforschung des Geistes und der Begrifflichkeiten sowie der engen Beziehungen zwischen inneren und äußeren Landschaften gewidmet. Es ist in den meditativen Traditionen in der Tat keine Seltenheit, Augenblicke der Erleuchtung und Einsicht mittels Poesie zum Ausdruck zu bringen. Yogis und Dichter sind unerschrockene Erforscher dessen, was ist, und wortgewandte Hüter des Möglichen.

      Die Perspektive, die uns große Poesie eröffnet, hat wie jede authentische Kunst das Potenzial, unsere Sehfähigkeit zu verbessern. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie uns in die Lage versetzen kann, die Dringlichkeit und Bedeutsamkeit unserer eigenen Situation, unserer eigenen Psyche, unseres Lebens deutlicher wahrzunehmen, und zwar indem sie uns hilft zu verstehen, wohin die Meditationspraxis unsere Aufmerksamkeit lenken will, damit wir hinschauen und sehen, wofür wir uns öffnen und, am allerwichtigsten, was wir dadurch fühlen und erkennen können. Alle Kulturen und Traditionen dieser Erde bringen Poesie hervor. Man könnte sagen, die Dichter sind und waren schon immer die Hüter des Gewissens und der Seele des Menschseins. Oft bringen sie Aspekte einer Wahrheit zur Sprache, die zu beachten und zu kontemplieren sich lohnt. Alle Poeten, ob aus Nord-, Mittel- oder Südamerika, aus China, Japan, Europa, der Türkei, Persien, Indien oder Afrika, gleich, ob christlich, jüdisch, islamisch, buddhistisch, hinduistisch oder jainistisch, animistisch oder klassisch, weiblich, männlich oder transidentitär, antik oder modern, heterosexuell, schwul oder lesbisch – sie alle halten unter den richtigen Umständen, nämlich dann, wenn wir offen und uns selbst wirklich nah sind, eine geheimnisvolle Gabe für uns bereit. Sie geben uns eine neue Perspektive, aus der heraus wir jenseits unserer jeweiligen Zeit und Kultur auf uns selbst blicken und uns erkennen können. Sie bieten uns etwas Grundlegenderes und Menschlicheres an als das, was wir bereits erwarten oder kennen. Eine solche Perspektive ist vielleicht nicht immer bequem. Manchmal kann sie sogar ausgesprochen aufrüttelnd und verstörend sein. Und vielleicht ist es gerade Poesie dieser Art, die wir eine Weile auf uns wirken lassen sollten, weil sie das gesamte, sich stets verändernde Spektrum von Licht und Schatten offenbart, das ständig über die Leinwand unseres Geistes huscht und die untergründigen Strömungen unseres Herzens bewegt. In ihren besten Momenten bringen Dichter das eigentlich Unaussprechliche zum Ausdruck. In solchen Momenten werden sie durch eine geheimnisvolle Gnade der Muse und des Herzens zu Meistern der Worte jenseits aller Worte. Das Unaussprechliche, um das sie gerungen, dem sie eine Gestalt verliehen haben und auf das sie uns hinweisen, wird nicht zuletzt dadurch lebendig, wie wir ihre Gedichte auf uns wirken lassen. Poesie erwacht dann zum Leben, wenn wir sie beim Lesen und Hören wirklich berühren und uns berühren lassen, wenn wir mit all unserer Feinfühligkeit und Intelligenz bei jedem Wort verharren, bei allem, was es in uns auslösen mag, bei jedem Atemzug, den wir dabei machen, bei jedem Bild, das kunst- und klangvoll evoziert wird und jenseits aller Künstlichkeit zu uns selbst und zu der Wirklichkeit der Dinge zurückbringt.

      Aus diesem Grund werden wir auf unserer gemeinsamen Reise durch diese vier Bände gelegentlich innehalten, um in solche Wasser der Klarheit einzutauchen. Dabei werden wir uns von dem unvermeidlichen Streben der Menschheit nach Selbsterkenntnis berühren lassen, dem manchmal von Erfolg gekrönten Verlangen, sich an ihr tieferes Wissen zu erinnern, und in einem zutiefst freundlichen, großzügigen und mitfühlenden Akt (auch wenn dieser kaum je zu diesem Zweck unternommen wird) auf mögliche Wege der Vertiefung unseres Lebens, unseres Sehens und unseres Fühlens hinzuweisen. Dadurch werden wir vielleicht mehr wertschätzen, ja zelebrieren, wer und was wir sind und werden könnten.

       Mein Herz erhebt sich,

       gedenkt, dir Neuigkeiten zu bringen

       von etwas,

       das dich angeht

       und das viele Menschen angeht. Sieh dir doch an,

       was heute als Neuigkeit durchgeht.

       Dort wirst du es nicht finden, vielmehr in

       missachteten Gedichten.

       Es ist nicht leicht,

       aus Gedichten die Neuigkeiten zu erfahren,

       und doch sterben täglich Menschen kläglich

       an einem Mangel dessen,

       was dort zu finden ist.

      WILLIAM CARLOS WILLIAMS

       Draußen die frostige Wüstennacht.

       Diese andere Nacht wird warm, lodernd.

       Mag die Landschaft bedeckt sein von einer dornigen Kruste.

       Hier drinnen haben wir einen sanften Garten.

       Wenn die Kontinente explodieren,

       werden die Metropolen und Städte, alles,

       zu einem versengten schwarzen Ball.

       Die Neuigkeiten, die wir hören, sind voller Jammer für

       diese Zukunft,

       doch die wahren Neuigkeiten hier drinnen sagen,

       dass es durchaus nichts Neues gibt.

      RŪMĪ

       (nach der englischen Übertragung von Coleman Barks und John Moyne)

      * Vgl. Robert Wright, Why Buddhism Is True; dt. Warum Buddhismus wirkt (siehe Literaturverzeichnis).

       Ein Zeugnis hippokratischer Integrität

      

An einem späten Septembertag im Jahr 1979 liege ich im schwindenden Nachmittagslicht zusammen mit fünfzehn Patienten auf dem Teppichboden im geräumigen und blitzsauberen neuen Konferenzraum der Belegschaft des Medical Center der University of Massachusetts. Heute findet die erste Sitzung im ersten Zyklus des Programms für Stressbewältigung und Entspannung der kurz zuvor von mir gegründeten und später als Stress Reduction Clinic oder auch MBSR Clinic bekannt gewordenen Institution statt. Ich bin gerade dabei, uns durch den Body Scan zu führen, eine längere Meditation im Liegen. Alle liegen auf brandneuen, mit Stoffen in verschiedenen leuchtenden Farben bezogenen Schaumstoffmatten auf dem Rücken, zusammengedrängt an einem Ende des Raums, damit jeder meine Anleitungen gut hören kann.

      Mitten in einer langen Schweigephase geht plötzlich die Tür des Konferenzraums auf, und herein kommt eine Gruppe von etwa dreißig Menschen in weißen Kitteln. Sie wird angeführt von einem großen, stattlichen Mann. Er kommt auf uns zu und mustert zuerst mich, wie ich da in schwarzem T-Shirt und schwarzen Karatehosen barfüßig auf dem Boden liege, und anschließend mit erstaunter und leicht amüsierter Miene die anderen.

      Dann schaut er nochmals mich an und fragt nach einer langen Pause schließlich: „Was ist denn hier los?“ Ich bleibe liegen, genau wie die anderen der Gruppe, die wie tot auf ihren farbigen Matten ruht und ihre Aufmerksamkeit auf irgendeine Körperregion zwischen den Füßen gerichtet hat, wo wir mit der Übung begonnen haben, und dem Kopf, wo sie im Verlauf der Übung hinwandern sollte. Während dessen schweben hinter der imposanten Gestalt im Halbdunkel schweigend die anderen Weißkittel. „Das ist das neue Stressbewältigungsprogramm des Krankenhauses“, antworte ich, immer noch im Liegen, und nun frage ich mich, was zum Teufel hier los ist. Er entgegnet: „Nun, wir veranstalten hier ein Treffen unserer Chirurgen mit den Kollegen aus den angeschlossenen Krankenhäusern, und für den Zweck haben wir diesen Konferenzraum schon vor langer Zeit reserviert.“

      Jetzt stehe ich auf und stelle mich dem Mann vor, der mich um mehr als eine Kopflänge überragt. „Ich weiß nicht, wie es zu dieser Doppelbelegung kommen konnte. Ich habe mehrmals bei der Verwaltung angefragt, um sicherzugehen, dass dieser Raum in den


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