Trost der Physik. Harald Lesch
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© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH
2013, München / Grünwald
ISBN 978-3-8312-5738-6
Design Cover: Heike Collip, Pfronten
Motiv Titel: Brian Bagnall, München
Satz: Tim Schulz, Mainz
Druck und Bindung:
fgb freiburger graphische betriebe, Freiburg
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Harald Lesch / Maximilian Imgrund
Trost der Physik
Gedanken eines Abgestürzten
„Und die Widmung?“
„Für unsere Frauen.“
„Klar, für wen denn auch sonst.“
Inhaltsverzeichnis
Prolog (im Himmel)
Kapitel 1 – Meer
Kapitel 2 – Inventur
Kapitel 3 – Kopfkino
Kapitel 4 – Bitte in bar
Kapitel 5 – Mit offenen Augen
Kapitel 6 – Der Anfang von Allem
Epilog
Prolog (im Himmel)
Werter Leser,
mit einem angenehmen Signalton beginnen die Anschnallzeichen zu leuchten. Während unser Protagonist noch tief im Schlaf durch die Wolken über einem der sieben Weltmeere gleitet, möchten wir Ihnen einige Sicherheitshinweise mit auf den Weg geben.
Bitte stellen Sie jetzt ihre Sitzlehnen senkrecht und überprüfen Sie Ihre Sicherheitsgurte. Klappen Sie den Tisch vor Ihnen bitte in die Senkrechte und achten Sie darauf, dass Ihr Handgepäck sicher unter dem Sitz vor Ihnen verstaut ist. Bitte entspannen Sie sich. Hören Sie in sich hinein und achten Sie auch auf das leise Rauschen der Turbinen. Entdecken Sie vielleicht etwas Überraschendes, etwas Ungewöhnliches? Möglicherweise ein Klopfen? Eventuell ein Surren? Oder bereiten Ihnen niederfrequente Vibrationen ein Unbehagen, weil sie stärker werden?
Entspannen Sie sich. Das leise Zischen der Klimaanlage im Ohr und den seltsam technischen Geruch in der Nase, wollen wir Ihren Geist bewusstseinserweitern. Denn was Sie im Folgenden erwartet, sind B-Seiten.
Das ist die Rille auf Vinyl, die sonst unten liegt.
Die meisten B-Seiten der Musikgeschichte scheinen darauf abzuzielen, nur im Rausch genießbar zu sein. Dieses Buch aber versucht, Sie auszunüchtern.
Mit Bedacht gelesen sollte der erzielte Effekt hingegen derselbe sein.
Und jetzt? Da geht doch tatsächlich ein leichtes Rucken durchs Flugzeug, mögliche Vorboten weiterer Turbulenzen.
Entspannen Sie sich. In ihrer Natur rau und experimentell sollen die folgenden Seiten Sie sowohl beflügeln, als auch auf den Boden der Tatsachen bringen.
Und wenn jetzt ihr Magen hüpft, bleiben Sie gelassen. Da! Eine seltsame Drehbewegung zieht am Flugzeug. Zugleich fällt die Beleuchtung aus und dank der Notbeleuchtung erreichen wir den Rotlichtbezirk. Ein Knall und seltsam früh geht es – laut dröhnend – abwärts.
Schreie, ein Aufprall. Und dann ein gleichmäßiges, leises Rauschen. Und endlich Stille, völlige Stille.
„Beim Wort Ingwer“ hat Walter Benjamin einmal in tiefem Rausche berichtet, „ist anstelle des Schreibtisches plötzlich eine Fruchtbude da“.
Die Nadel hebt sich lautlos vom Vinyl der A-Seite. Es ist Zeit, das Blatt zu wenden, denn unser Protagonist erwacht.
Fruchtbude oder Schreibtisch?
Was sehen Sie?
Kapitel 1 – Meer
Ich werde nie ein Buch geschrieben haben – Warum auch?
Denn in meinem kurzen Leben habe ich nie verstanden, was Konsequenzen sind. Zumindest konnte ich keine entdecken.
Während andere mich über den Grund und Sinn ihrer Handlungen aufklären konnten, finde ich im mentalen Bild meines Wirkens nur eine serielle Abfolge von Ereignissen, die – letztendlich bald – zu meinem Tod als letzte Sequenz meines individuellen Seiens führen werden.
Ich vermute stark, dass die anderen, weniger aus meinem persönlichen Tod als aus der Art, wie ich sterbe, Konsequenzen ziehen werden. So ist mein alsbaldiger Tod für die Nachwelt sicher eine Tragödie.
Für mich aber ist er ein Fiasko.
Denn ich bin zu früh aufgewacht. So früh, dass ich das Grau am nun gespenstisch wolkenfreien Himmel sehen konnte. Dass ich mir meiner Situation bewusst werden konnte, bevor die Sonne aufging.
Ich liege da und schaue auf das Meer. Unter einer phänomenal rot-blau gefärbten Atmosphäre erkenne ich, wie die ersten glitzernden Bogensekunden der Sonne am Horizont auftauchen.
Der Flugzeugflügel, der meinen erstaunlich unversehrten Körper beherbergt, wiegt sich mit der Wellenbewegung in der Dämmerung. Alle Wogen sind wiederum mit kleineren Wogen besetzt, diese mit Kräuselungen und wieder mit kleineren Wellen. Kaum Gischt, nur Trümmer, die mit Wellen ihrer Größe mitschaukeln. Dahinter zu jeder Richtung Meer. Nichts als Meer. Mehr als Nichts. Darüber dreht sich die Sonne langsam in mein Blickfeld. Irgendwie werde ich wehmütig. Ich hasse es, wehmütig zu werden. Ich werde dann schnell selbstmitleidig. Und Selbstmitleid ist hier nicht angebracht.
Die Sonne erscheint meinem Auge tief rot und flirrend.
Wäre ich doch nur einige Sekunden später nach dem Absturz zu Bewusstsein gekommen. Das Wasser ein paar Grad kälter und ich hätte jetzt keine Probleme mehr. Wäre doch der Flügel untergegangen, auf den ich mich im Mondschein retten konnte und scheinbar retten wollte.
Um es gleich zu sagen, gleich am Anfang, so dass man sich darauf einstellen kann, wobei man bedenken muss, dass ich es eigentlich schon gesagt habe: Ich hätte meinem Leben lieber selbst ein Ende gesetzt. Erfüllte Selbstbestimmung, freier Wille bestimmt seinen Tod auch selbst
Sicherlich kann nicht jeder meinen Gedanken folgen, schließlich sollte ich doch froh sein, einen Flugzeugabsturz in den Atlantik überlebt zu haben, die Chance auf Rettung und so weiter. Aber ich stelle auch gar nicht den Anspruch, mir zu folgen – wie denn auch?
Es begibt sich für mich persönlich, aus meiner Sichtweise nur so, dass es mir nur gut und Recht wäre mich der Selbsttötung schuldig zu machen. Immerhin hätte ich zumindest – und auf diesen Schlussstrich wollte ich in meinem Leben einmal stoßen – mein Ableben bestimmt. Dieser Abgang – wenn ich es so nennen mag, ich bin ja kein Schauspieler – hätte als konsequent dargestellt und von der Nachwelt auch so wahrgenommen der Menschheit doch nicht die Hoffnung auf den freien Willen genommen. Hier liegt ein Mensch, der sich in völliger Kenntnis der Lage selbst aus der Existenzform des Seins hinausbefördert. Ein schönes, fast pathetisches Bild.
Aber so trifft es wahrlich zu, dass meine Lage weniger einem göttlichen Wunder als einer hoffentlich gottlosen Farce