3:2 - Deutschland ist Weltmeister. Fritz Walter
kann ich behaupten, dass uns die fünf Tage von Obertal mit einem hübschen Quantum Sorglosigkeit und Unternehmungsgeist für die Schweizer Reise verproviantiert haben. Schade, dass ein paar der Weltmeisterschaftskandidaten aus beruflichen Gründen nicht abkömmlich waren.
Kreuzfidel steigen wir in den Bus, der uns zurück nach Schönbeck bei Karlsruhe bringt.
Herbergers Hochglanzpolitur
Am 26. Mai 1954 treffen wir uns in München-Grünwald. Hierher, in die vorbildlich eingerichtete Sportschule des Bayerischen Landessportverbandes, hat der Bundestrainer 28 Spieler berufen. Aus vierzig Mann, die schon vor Wochen dem Organisationskomitee der FIFA zu melden waren, sind sie ausgewählt. Aber der Kreis muss noch enger gezogen werden, denn nur 22 Mann dürfen endgültig – letzter Termin ist der 6. Juli – für die Schweiz nominiert werden. Erst am Schluss des Lehrganges wird der Chef bekanntgeben, wen er – sicherlich schweren Herzens – zurücklässt.
Von den Vereinen fordert Herberger dringend, die nach Grünwald geladenen Spieler ab 23. Mai, dem Tag des deutschen Endspiels, für den Lehrgang freizugeben. Die in Frage kommenden Klubs sind dem Prestige des deutschen Fußballsports zuliebe einverstanden – teilweise unter erheblichen Opfern, denn sie verzichten ja damit auf ihre bekanntesten und zugkräftigsten Spieler. Ohne sie gewinnbringende Privatspiele abzuschließen, ist natürlich sehr schwer. Das trifft vor allem für den 1. FC Kaiserslautern zu, der gleich fünf Mann wochenlang hergeben muss.
Nun, die Freigabe seiner Kandidaten für den Grünwalder Lehrgang hat Herberger erreicht. Leider muss er in Kauf nehmen, dass einige der 28 Mann vor dem Stichtag verletzt wurden und mehr oder weniger angeschlagen in Grünwald erscheinen. Pechvogel Jupp Posipal zum Beispiel ist ausgerechnet am 23., wenige Minuten vor Spielschluss, erheblich am Knöchel verletzt worden. Auch Baumann vom 1. FC Nürnberg hat noch etwas abbekommen, und Karl Mai aus Fürth klagt über eine Entzündung am Wadenbein. Unser Masseur Deuser hat während der ersten Tage in Grünwald alle Hände voll zu tun.
Als Max Morlock mir zur Begrüßung die Hand schüttelt, kann ich nicht umhin, ihn an seine Prophezeiung zur Deutschen Fußball-Meisterschaft zu erinnern:
»Na, Maxl, was sagst du nun?«
»Da kannst halt nix macha, Fritz!« erklärt er in unerschütterlich bayerischer Ruhe. »Ich hab’ hundertprozentig mit euch gerechnet.«
Hundertprozentig? Was will das beim Fußball schon heißen?
In den Spielen um die Gruppenmeisterschaft der Oberliga Südwest hatte der 1. FCK einen hartnäckigen Gegner: Pirmasens! Mit 4:0 wurden wir im allerletzten Spiel auf eigenem Platz schließlich Meister. Und wieder kamen wir im Kampf um die »Viktoria« gleich in die schwerste Gruppe – ausgerechnet mit unseren Gegnern vom Jahr zuvor, dem 1. FC Köln und Eintracht Frankfurt. Wir wussten, wie stark beide Mannschaften sind, und gingen entsprechend belastet in die Spiele. In Köln gegen Frankfurt und in Stuttgart gegen Köln haben wir es schließlich geschafft und kamen glücklich ins Finale. Unser Endspielpartner aber war nicht der VfB Stuttgart, wie erwartet, sondern das starke und ehrgeizige Hannover 96.
In der ersten Halbzeit des Hamburger Endspiels gab uns das Führungstor gleich am Anfang guten Auftrieb. Aber schon mit dem Ausgleichstreffer der Hannoveraner, der mit dem Halbzeitpfiff fast zusammenfiel, spürten wir das Unheil nahen. Wir haben in der Pause fast gar nichts geredet.
»Heute geht’s schief!« Keiner hat es ausgesprochen, aber es lag einfach in der Luft.
Mit dem zweiten Tor, ausgerechnet einem Eigentor von Kohlmeyer, war das Spiel praktisch verloren. Eine Depression ergriff uns, die mit dem tatsächlichen Kräfteverhältnis beinahe nichts mehr zu tun hatte. Unfähig, bis zum Letzten zu kämpfen, war es uns fast egal, ob es 4:1 ausging oder 5:1. Für uns schien nichts mehr drin zu sein in diesem Spiel. Aber wir waren – glaub’ ich – anständige Verlierer, haben nicht versucht, durch Härten oder Unsportlichkeiten den Sieg der Hannoveraner zu vereiteln. Mit fliegenden Fahnen sind wir untergegangen, und unser Glückwunsch für den hervorragend spielenden Rivalen kam aus vollem Herzen.
Toni Turek, der mit seinem Klub Fortuna Düsseldorf auf Tournee in Amerika war, ist gerade einen Tag vor dem Endspiel wieder in Hamburg eingetroffen. Er hat unsere Niederlage miterlebt.
»Trotz allem herzlichen Glückwunsch!« sagt er, als er mir in Grünwald gegenübersteht.
»Du willst mich wohl veräppeln?«
»Keineswegs! Was meinst du, wie viele Vereine in Deutschland froh wären, an eurer Stelle zu sein. Einmal im Endspiel zu stehen, auch wenn sie dann verlieren.«
Hat der Toni nicht recht? Trotzdem vergehen noch ein paar Tage, bis ich im Kreis der Kameraden meine Niedergeschlagenheit ganz überwinde.
Hier in Grünwald kommt es unter allen Umständen darauf an, uns für die Weltmeisterschaftskämpfe in beste Form zu bringen. Für Herberger steht fest, dass in der Schweiz zwischen den einzelnen Spielen nicht mehr allzu scharf trainiert werden kann. Zwischen einem Sonntags- und einem Mittwochspiel werden wir genug damit zu tun haben, unsere Kondition zu halten. Die Grundlage für die körperliche Verfassung der einzelnen Spieler soll deshalb dieser Lehrgang schaffen, für den der Chef ein exaktes Programm ausgearbeitet hat.
Normalerweise stehen wir um halb acht Uhr auf, frühstücken gemeinsam und gehen anschließend in den Lehrsaal zum theoretischen Unterricht.
Wir diskutieren über Stärken und Schwächen anderer Mannschaften, in erster Linie aber kehren wir selbstverständlich vor unserer eigenen Tür und beraten, wie die harmonische Zusammenarbeit der deutschen Nationalelf noch verbessert werden kann.
Zweimal sehen wir den Film vom 3:6-Spiel England – Ungarn in London, bei dem die Briten bekanntlich erstmalig in ihrer Fußballgeschichte auf eigenem Boden geschlagen wurden. Während der Vorführung weist uns Herberger auf alle taktischen Finessen hin, besonders aber auf die Tatsache, mit der die Engländer bei diesem Spiel und beim 7:1-Rückspiel in Budapest nie fertig geworden sind: Hidegkuti als ungarischer Mittelstürmer pendelt zurückgezogen weit hinten und lauert nicht stur vorn wie ein englischer Centerfor. Obwohl der Kommentator des Films englisch spricht, kennen wir ihm die Verwunderung darüber deutlich an.
»Schauen Sie, Jupp«, sagt Herberger zu Posipal, »wo der Hidegkuti ’rumläuft! Der englische Stopper bleibt jetzt da hinten, statt ihm wie ein Schatten zu folgen oder wenigstens einen Außenläufer zur Deckung hinzuschicken.«
»Und das, meine Freunde, ist der berühmte Major Puskas!«
Wir wissen, dass wir bei der Weltmeisterschaft einmal mit ihm zusammentreffen werden, denn Ungarn gehört wie wir, die Türkei und Südkorea zur Gruppe II. Die sechzehn Teilnehmer, die sich für die Schweiz qualifiziert haben, sind inzwischen für das Achtelfinale in vier Gruppen eingeteilt worden.
Gruppe I:Brasilien, Frankreich, Jugoslawien, Mexiko
Gruppe II:Ungarn, Türkei, Deutschland, Südkorea
Gruppe III:Uruguay, Österreich, Tschechoslowakei, Schottland
Gruppe IV:England, Italien, Schweiz, Belgien
Von jeder dieser Gruppen kommen zwei Länder eine Runde weiter, und zwei müssen ausscheiden. Natürlich sollen die Besten aufrücken. Um sie zu ermitteln, müsste gerechterweise jeder gegen jeden antreten. Eine solche Regelung würde zu viele Spiele erfordern. Man muss deshalb einen Ausweg finden. Die in der obenstehenden Gruppeneinteilung kursiv gedruckten Länder werden »gesetzt«. Man hält sie mit mehr oder weniger Berechtigung für stärker als die anderen und billigt ihnen gewisse Vorteile zu: Sie brauchen nicht untereinander, sondern nur gegen die Nichtgesetzten, d. h. die für schwächer Gehaltenen ihrer Gruppe, zu spielen.
Eine ideale Lösung? Es gibt keine ideale Lösung, wenn nicht jeder gegen jeden spielt. Die Gruppe II mit Deutschland ist ein Musterbeispiel dafür. Wir können uns ganz gut ausrechnen, wie die Geschichte wahrscheinlich läuft:
Gruppenfavorit Ungarn spielt gegen Deutschland und Südkorea – das ergibt vier Punkte und bringt den Magyaren den Eintritt vom Achtel- ins Viertelfinale.