Madame Nina weiß alles. Nina Janousek
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Madame Nina:
Madame Nina weiß alles
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 edition a, Wien
Cover: JaeHee Lee
Gestaltung: Lucas Reisigl
Lektorat: Silvia Meister
ISBN 978-3-99001-241-3
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Ein Superstar am Bauernmarkt
In der Bar wurde es plötzlich still. Die angenehme Geräuschkulisse, das sanfte Plätschern der Gespräche, unterbrochen vom kurzem, hellen Lachen eines meiner Mädchen, war binnen Sekunden verebbt und einer fühlbar gespannten Ruhe gewichen. Gerade hatte ich zur Champagnerflasche gegriffen, um mir ein weiteres Glas Dom Pérignon einzuschenken, als mir das unpassende Schweigen bewusst wurde. In die Stille hinein stellte ich die Flasche zurück auf die Theke und sah auf.
»Was gibt es denn?«, fragte ich. Keines der Mädchen antwortete. »Los, los«, forderte ich sie auf, »macht weiter.«
Die Uhr ging auf Mitternacht an diesem Donnerstagabend Anfang der goldenen Neunzigerjahre in Wien. Eine gute Ära war das, der wirtschaftliche Aufschwung beinahe ungebrochen, noch regierte der Zeitgeist des »Alles ist möglich«. Dieser generell positiven Grundstimmung konnte auch der seit Tagen anhaltend fallende Regen keinen Abbruch tun. Und wenn Gäste Sorgen oder Stress hatten, gaben sie die Probleme samt ihrem Mantel bei der Eingangstüre meines Etablissements »Ninas Bar« ab. Das Unangenehme wurde nach draußen in die unfreundliche Nacht verbannt.
Hier bei mir durften sich die Herren für einige Stunden Urlaub von den Kümmernissen des Alltags nehmen, private oder berufliche Schwierigkeiten rückten in den Hintergrund.
Ab und zu erzählte ein Gast, den etwas bedrückte, einem Mädchen von seinen Problemen. Allerdings waren die Widrigkeiten durch das stimmige Ambiente der Bar weichgezeichnet, und die Herren sprachen über das, was sie beschäftigte, in anekdotenhaft verbrämter Weise. Schon allein dadurch wogen die Sorgen nicht mehr so schwer, jeder Kummer oder Ärger schien leichter und daher auch einfacher zu bewältigen. Wenn diese Gäste mein Etablissement verließen, hatten sie dank der Mädchen, die alle auch gute Zuhörerinnen waren, jede Menge seelischen Ballast abgeworfen.
Diese Art der Entspannung hat im Laufe der Jahre, da bin ich ganz sicher, vielen Gästen über private und berufliche Krisen hinweggeholfen.
Hier in der Bar war es stets gemütlich. Bei mir tauchten die Herren in eine Welt der Intimität und Lockerheit ein. Das gedämpfte Licht und der warme Schein der Kerzen aus den schweren Silberleuchtern, das exquisite plüschige, rote Mobiliar, die üppigen Stoffdrapierungen und meine stets wie Diven zurechtgemachten Mädchen schufen den Rahmen dieser Oase des Wohlfühlens. Bei mir sollten die Gäste amüsante Stunden in luxuriöser Atmosphäre und diskreter Behaglichkeit erleben.
In diesem ebenso noblen wie familiären Ambiente, auf das ich großen Wert legte, saß ich mit einigen Gästen an der Theke. Einige andere Herren hatten sich bereits mit Mädchen in eines der sechs Séparées zurückgezogen.
Es war ein typischer Donnerstagabend in meiner Bar. Um die dreißig Mädchen waren da und etwa vierzig bis fünfzig Gäste, bunt gemischt, vom Beamten bis zum Bauunternehmer. Der Donnerstag war in den Achtziger- und Neunzigerjahren traditionell gut fürs Geschäft, denn es war üblich, dass die Männer, die verheirateten und liierten, an diesem Tag »Ausgang« hatten, ihren sogenannten »Herrenabend« genossen. Auch in meinem Etablissement hatte der Donnerstag diese Bezeichnung.
Das Perlen der Gespräche hatte wieder eingesetzt, ich nahm also doch noch einen Schluck Champagner. Als ich das Glas abstellte, wanderte mein Blick durch die Bar und blieb bei den mit einem roten Teppich ausgelegten Stufen vor dem Eingang hängen.
Schlagartig wurde mir klar, was meine Mädchen gerade eben so fasziniert und die Gespräche zum Verstummen gebracht hatte. Es war ein Herr, der dort beim Entree stand, ein Mann mit einer Aura, die weit in den Raum reichte. Gewellte, dunkle, schulterlange Haare. Prägnante Gesichtszüge. Eine hohe Stirn mit starken Augenbrauen, darunter eine ausgeprägte Nase und schmale Lippen. Wer war das nur? Er kam mir bekannt vor. Hunderte Gesichter rasten durch meinen Kopf, doch keines deckte sich mit dem Aussehen dieses Gastes. Dabei hatte ich ein wirklich hervorragendes Gedächtnis, was die Besucher der Bar betraf. Noch nach vielen Jahren konnte ich mich an jeden von ihnen erinnern, an kleinste Details, die mir die Herren in Gesprächen anvertraut hatten. Vermutlich war diese Tatsache eines der Erfolgsgeheimnisse meines Etablissements. Auch wenn ein Gast zehn Jahre lang nicht da war, erkannte ich ihn sofort wieder und wusste alles, was er mir einst erzählt hatte. So konnte ich ihn wie einen alten Freund empfangen, der erst gestern zu Besuch war. Und den Herren vermittelte dies ein Gefühl der absoluten Vertrautheit und des Willkommenseins.
Aber der Mann, der noch immer bei der Eingangstür stand? Nein, an ihn erinnerte ich mich nicht. Ich konnte also ausschließen, dass er schon einmal hier gewesen war. Ich musste ihn woanders gesehen haben. Vielleicht in der Zeitung oder im Fernsehen? Aber ich konnte nicht einordnen, warum mir sein Aussehen so geläufig war.
Ich stand noch immer an der Theke und unterhielt mich mit einem Gast, einem Rechtsanwalt in mittleren Jahren. Gerade erzählte er mir von seinem Hund, davon, dass das arme Tier seit seiner Scheidung an Schnupfen litt. Und dass er das Leiden seines treuen, vierbeinigen Freundes nun mit Homöopathie zu bekämpfen gedachte. Doch jetzt musste der Rechtsanwalt warten.
»Herr Doktor, bitte entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen, ich will nur rasch unseren neuen Gast begrüßen.«
Ich füllte eine zweite Champagnerflöte, nahm die beiden Gläser und winkte ein Mädchen heran. Gemeinsam gingen wir auf den Herrn an der Treppe zu, ich voran, Julia hinter mir. Ich trug nicht nur den Champagner, sondern auch mein strahlendstes Lächeln. Dieses Strahlen war meine Rüstung, meine Uniform. Ich streifte es über wie den teuersten Pelz. Es hüllte mich ein und gab mir Sicherheit. Und kaum legte ich es an, versetzte es mich in eine Glücksstimmung. Wie eine Welle breitete sich meine gute Laune, mein Lachen, meine Herzlichkeit in der Bar aus und erreichte jeden meiner Gäste. Egal, ob die Herren ständige Besucher waren, wie der renommierte Rechtsanwalt, oder ob sie zum ersten Mal in mein Etablissement kamen, ich umfing sie mit meiner Fröhlichkeit. Ich konnte dieses Strahlen, diesen Glückszustand jederzeit abrufen, dennoch war daran nichts künstlich oder aufgesetzt. Denn es kam aus meinem Innersten, es war mein tiefes Bedürfnis, die Gäste damit zu umfangen, sie mit einer angenehmen Wärme zu umgeben. Egal, ob es mir gut oder schlecht ging, ob die Geschäfte großartig liefen oder dahindümpelten, mein Strahlen konnte ich jederzeit anknipsen.
Lache, Bajazzo, auch wenn dir zum Weinen ist, das war mein Motto. Eine Zeile, angelehnt an den Text aus der Oper »Pagliacci«, die ich schon immer verinnerlicht hatte. Dort singt der Bajazzo, der Clown: »Die Leute zahlen und wollen lachen hier … Verwandle in Witze die Schmerzen und die Tränen … Lache Bajazzo … Lache über den Schmerz, der das Herz dir vergiftet.« Hier in der Bar war ich der Bajazzo, der alle Sorgen weglachte.
»Herzlich willkommen, der Herr«, begrüßte ich also strahlend den fremden Mann an der Treppe. »Wie geht es Ihnen an diesem wunderschönen Abend?«
Julia bat ich: »Nimm dem Herrn doch bitte den Mantel ab.«
Gerne ließ er sich von ihr aus der langen Jacke helfen und nahm das Champagnerglas, das ich ihm anbot.
»Wenn ich mich nicht irre, sind Sie zum ersten Mal bei uns?«, fragte ich den mysteriösen Unbekannten.
»Es tut mir leid, ich spreche kein Deutsch«, antwortete er mir höflich auf Englisch.
Er war also Amerikaner. Ich hatte in meiner