Bemerkenswert normal. Eva Bilhuber

Bemerkenswert normal - Eva Bilhuber


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hatte. War es die Schwüle oder diese permanente Jagd nach möglichst brillanter Selbstdarstellung, die mich so ermüdete? Ich kann es nicht sagen. Auf jeden Fall sorgte dieser Cocktail aus Erschöpfung, Frustration und Hitze dafür, dass ich mich plötzlich genau das sagen hörte, wovon alle Selbst-Branding-Ratgeber, alle Beraterkollegen und überhaupt jeglicher gesunde Menschenverstand abrät: «Okay, dann möchte ich Ihre Zeit auch nicht unnötig strapazieren – meine Geschichte ist schnell erzählt. Ich bin eine völlig normale Managementberaterin, von denen Sie da draußen so viele finden können wie Sand am Meer. Thematisch mache ich genau das, was alle anderen auch machen. Ob ich jetzt besser oder schlechter bin, kann ich Ihnen nicht sagen, das müssen Sie selbst beurteilen. Was ich Ihnen aber sagen kann, ist, was mir bei meiner Arbeit wichtig ist und wo mein Herz schlägt. Gern sage ich Ihnen dann auch noch, wo ich nicht gut bin und Sie folglich mit anderen Kollegen besser fahren.» Es war wohl der Mut purer Verzweiflung, der mich dazu getrieben hatte. Ich wollte ehrlich gesagt nur noch raus und war im Geiste schon im Auto auf dem Weg zur nächsten Tankstelle, um mich mit einem großen Kübel Karamelleis für das Ertragen dieser entwürdigenden Situation zu entschädigen.

      Da geschah etwas völlig Unerwartetes. Mein Gegenüber hörte plötzlich auf, demonstrativ uninteressiert mit seinen Unterlagen zu rascheln, hob überrascht den Blick und lehnte sich entspannt in seinen Bürostuhl zurück. War da sogar ein verschmitztes Lächeln? «Das ist aber mal erfrischend ehrlich, Frau Bilhuber. Wissen Sie, Sie können es sich vermutlich nicht vorstellen, aber normalerweise fallen hier immer nur grandiose Tausendsassa ein, die alles können und in allen Themen die Besten der Besten sind! Als gäbe es nur Helden auf dieser Welt! Egal, welches Problem ich anspreche – sie haben immer eine Lösung parat und können einfach alles. Und ich frage mich immer, denken die, wir sind blöd?» Er gestikulierte dabei theatralisch, als hätte er schon lange auf den Moment gewartet, seiner Empörung endlich mal Luft machen zu können. «Sie sind die Erste, die sich traut, auch mal unverblümt zu sagen, was Sie nicht können. Das gefällt mir.»

      Vielleicht war es Zufall. Es wurde zwar nichts mit einem Auftrag – das wäre wohl auch zu kitschig gewesen. Aber ab diesem Gespräch lief es dann mit meiner Firma und ich habe seither weitaus mehr sonnige als wolkig-drückende Tage als selbständige Managementberaterin erlebt.

      Auf jeden Fall markierte dieses Gespräch aber mein erstes Rendezvous mit dem verkannten Potenzial des Normalseins. Es war jener Moment, in dem ich anfing, bewusst darüber nachzudenken, ob das häufig so verpönte Normalsein vielleicht doch besser war als sein Ruf. Konnte es tatsächlich sein, dass im Normalen eine Quelle zur Einzigartigkeit schlummert? Oder sind wir nicht automatisch zum Verlieren verdammt, wenn wir in einer Gesellschaft, die nach dem «Immer-besser-klüger-erfolgreicher»-Prinzip funktioniert, wagen, nur normal zu sein? Das Thema fing an, mich zu interessieren, und ich begab mich mit diesen Fragen – mehr intuitiv als systematisch – auf die Suche nach dem Normalen in unserer Superlativ-Gesellschaft. Als Quelle wählte ich das Leben selbst: Menschen und ihre alltäglichen persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen.

      Sechs Geschichten von sechs Menschen habe ich aufgespürt, die mich entdecken ließen, dass in einer Selbstoptimierungsgesellschaft wie unserer ein normales Leben kein Makel ist. Im Gegenteil. Ihre Geschichten haben mich gelehrt, dass Normalsein etwas Einzigartiges in sich trägt, das im global zelebrierten Blitzlichtgewitter unserer Bling-Bling-Manie schlicht aus dem Blickfeld geraten ist. Indem diese Menschen wagen, ihr Normalsein zu leben, haben sie auch mich inspiriert, Normalität in meinem Leben nicht als etwas zu betrachten, was dauernd eine Kampfansage braucht, sondern im Gegenteil etwas sehr Schätzenswertes ist. Es vermehrt anklingen zu lassen, kann das Leben ungemein bereichern.

      Ich bin diesen Menschen sehr dankbar, dass sie mir erlaubt haben, ihre inspirierenden Erlebnisse hier in ihrer Essenz, anonymisiert und mit diversen fiktiven Details angereichert, zu erzählen und meine persönlichen Reflexionen dazu anzustellen. Sie finden diese Geschichten im Hauptteil dieses Buches, jeweils gefolgt von einem Abschnitt mit meinen Gedanken, was ich daran für bemerkenswert normal halte. Für diejenigen, die interessiert sind, die bemerkenswert normale Seite in ihrem persönlichen Leben wieder etwas mehr anklingen zu lassen, gibt es am Schluss jedes Kapitels noch ein paar Ideen dazu. Eingerahmt wird dieser Hauptteil von einem Einführungskapitel, in welchem ich meine Wieder-Entdeckung des Normalen anhand von Alltagsbeobachtungen schildere, sowie einem Schlusskapitel, in dem ich die Essenz aus allen sechs Geschichten zusammenfasse und die verschiedenen Konturen einer bemerkenswert normalen Lebensgestaltung nochmal gesamthaft beschreibe.

      Wer meint, damit nun einen weiteren Ratgeber in den Händen zu halten, der vorgibt zu wissen, wie man ein besseres Leben lebt, der wird enttäuscht sein. Auch ich weiß es nicht besser. Meine Absicht war eine andere. Ich wollte unser heutiges pulsierendes, farbiges, facettenreiches, pralles und reiches modernes Leben verstehen und mit all seiner Widersprüchlichkeit, Vagheit, Unvollkommenheit und Unschärfe aufzeigen. Mit Respekt vor jedem Einzelnen wollte ich auf einer ganz persönlichen Ebene nachvollziehen, wie es uns damit gefühlsmäßig geht und wie wir damit umgehen.

      Dieses Buch hat folglich keinen Anspruch auf verallgemeinerbare Wahrheiten. Und so mag der Untertitel Von der Kunst, ein normales Leben zu führen in einer überdrehten Gesellschaft vielleicht etwas irreführend oder gar anmaßend erscheinen. Er rechtfertigt sich wohl lediglich durch meine beiden Hoffnungen, von denen ich beim Schreiben beseelt war. Einerseits hoffe ich, dass diese erfrischend lebendigen Geschichten aus dem Lebensalltag uns auf unterhaltsame Weise berühren und ermutigen, über Gegenentwürfe zum Imperativ unseres heutigen Selbstoptimierungs-Lebensideals nachzudenken. Mit einem gewissen Augenzwinkern hoffe ich darüber hinaus, dass ich damit zur Ehrenrettung der verpönten Kategorie des Normalen in unserer Gesellschaft beitragen kann und es vielleicht gelingt, eine neue Anerkennungskultur jenseits unserer vielzitierten «Winner-take-all»-Kultur zu etablieren. In diesem Sinne sind die folgenden Seiten als persönliches Essay und engagiertes Plädoyer zu verstehen, das dem Lebensgefühl aller bemerkenswert Normalen in unserer Gesellschaft gewidmet ist, die uns durch ihre Lebensweise Inspiration und Ermutigung schenken, unser einzigartig normales Leben zu wagen und zu feiern.

      Entdeckung

       «Das Bessere ist der Feind des Guten.»

      Voltaire

      Ist das Normale noch zu retten?

      Comeback eines verpönten Lebensentwurfs

      Besondere Kennzeichen: Keine

      Vielleicht kennen Sie das ja. Es gibt Momente im Leben, in denen wir uns fragen, ob die hundert entgegenkommenden Autos die Geisterfahrer sind oder wir selbst. Zum Beispiel wenn wir bei einem netten Abendessen im Freundes- und Bekanntenkreis sitzen und plötzlich feststellen, dass wir uns am Gespräch nicht mehr beteiligen können, weil wir immer noch keinen Marathon gelaufen sind, keinen Viertausender bestiegen oder keinen Abenteuerurlaub im Dschungel verbracht haben. Wenn wir uns ertappen, angesichts der Dreifach-Mama mit makelloser 36er-Figur den Bauch einzuziehen, und uns selbst verdammen, weil wir mal wieder die morgendliche Joggingrunde ausfallen lassen haben.

      Wenn die servierten Gerichte ständig kommentiert werden mit «Also, wenn ihr wirklich mal etwas Gutes essen wollt, dann müsst ihr …» und wir hoffen, dass wenigstens die Ikea-Herkunft unseres Geschirrs unentdeckt bleibt. Genau wie das fehlende Label der 15-Euro-Bluse aus dem H&M-Ausverkauf, die wir gerade tragen. Wenn wir mit Gefühlen der Scham oder mindestens des Unbehagens kämpfen, weil wir mit den nur durchschnittlichen schulischen Leistungen unseres pubertierenden Sohnes beim Wer-hat-das-beste-Kind-Poker nicht mehr mithalten können.

      Spätestens aber, wenn andere uns erzählen, wie sie ihren spektakulären Management-Job, bei dem sie dauernd um die Welt jetten, ganz locker mit ihrer Familie unter einen Hut bringen und es gleichzeitig auch noch schaffen, ein weltrettendes Start-up zu gründen, ihre Triathlonleidenschaft zu pflegen, und sich aufopferungsvoll für ein Afrika-Projekt zu engagieren, packt uns plötzlich der Selbstzweifel, ob nicht vielleicht doch wir der Geisterfahrer auf der falschen Spur sind. Und so hoffen wir insgeheim auf eine baldige Ausfahrt, die uns eine schnelle Flucht aus dieser Superhelden- und Superheldinnen-Community ermöglicht.

      Wenn wir am Abend dann tapfer erschöpft aufatmen und glauben, endlich für einen Moment dieser permanenten Jagd nach gegenseitig


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