Die Bewohnbarkeit der Erde (E-Book). Helmut Schreier
die Sonne brennt vom Himmel, aber unter dem Halbschatten der Blattschirme ist das Flanieren im Buchenwald eine Freude, auch wenn es überraschend steile Hänge hinaufzusteigen gilt im Drawehn, einer Moränenlandschaft, die der Gletscher des Saale-Glazials vor 120000 Jahren beim Abschmelzen in der norddeutschen Tiefebene zurückgelassen hat. Das Licht glänzt von den hellgrünen Blättern, die entlang der Zweige aus den Knospen herausdrängen. Gegen die Sonne gehalten, erscheinen sie lichtdurchtränkt und verlockend zart. Ich pflücke eines ab und ertaste seine seidige Beschaffenheit zwischen den Zähnen mit der Zunge, der Geschmack, anfangs grasartig, changiert beim Kauen angenehm zu einer leichten Säure.
Wie oft bin ich während der Jahrzehnte meines Lebens durch Buchenhallen gegangen, vor fünfzig Jahren als Lehrer habe ich über den Waldboden hin Ausschau nach Stellen für Bodenproben gehalten. Leichte Senken und Wannen, in denen sich die Blattstreu des Herbstes sammelt und Jahr für Jahr übereinander in Schichten ablagert, versprechen Schichtenmuster wie aus dem Bilderbuch. Gräbt man sie mit einem senkrechten Spatenstich auf, so sind die einzelnen Schichten sauber und separat zu erkennen: Obenauf liegt die lockere Blattschicht vom Vorjahr, mit beigefarben und bräunlich verwelkten, aber deutlich noch individuell erkennbaren Blättern, darunter eine matratzenartige Schicht aus weniger bröckeligen, zusammengepressten Blattresten, die sich kaum noch als einzelne aus dem Kuchen herauslösen lassen. Unter diesen helleren Oberschichten breitet sich eine dunklere Masse von annähernd torfartiger Beschaffenheit, ein wenig krümelig und so feucht, dass beim Zerreiben zwischen Daumen und Zeigefinger eine Schmierspur an den Fingern bleibt. Die am tiefsten unter den anderen liegende Schicht bildet meist einen ziemlich dünnen Horizont aus schwarzem Humus, in dem keine Spuren der alten Blattstreu mehr auszumachen sind. Und am schönsten – ich empfand das Schichtbild damals als eine Art didaktisches Kunstwerk – ist der Kontrast dieser schwarzen Erde zum strahlend weissen Sanduntergrund, auf dem sich die Bodenbildung schrittweise abspielt.
Hier im Drawehn mit seinen Moränensanden bietet sich ein ähnlicher Anblick wie damals auf den Sandsteinböden im Hessischen Bergland, wo ich Anfang der 1970er-Jahre meine Schulklasse in den Wald führte, um den Kindern zu zeigen, dass fruchtbarer Boden durch den Blätterfall zustande kommt – Stellt euch die Masse von Millionen Tonnen von Blättern vor, die jeden Herbst von den Bäumen fallen! –, durch die allherbstlichen Blätterberge und durch die vielen Pilze und Tiere, die diese Blätter zersetzen und fressen und dabei in kostbaren Humus verwandeln.
Auf die mit Zeitungspapier abgedeckten Tische im Klassenzimmer schütteten die Kinder die Bodenproben, die sie mit Schäufelchen abgegraben und in Plastikbeuteln mitgebracht hatten. Ich erinnere mich an das Pilzaroma des kräftigen Waldbodengeruchs, der sich alsbald im Raum ausbreitete und die Atmosphäre des Unterrichts dem Thema entsprechend unterlegte. Die Kinder sortierten das, was zu jeder Schicht gehörte, und ordneten es von oben nach unten als Sequenz oder von links nach rechts als Narrativ. Mit Lupen untersuchten sie zahlreiche kleine Lebewesen, die sich in den Proben bewegten, von bekannten wie Regenwurm, Assel und Ameise zu unbekannten Nematoden (dünnen weissen Würmchen), Hundertfüsslern (flink schlängelnden Räubern) und Saftkuglern (sehr breiten, auffälligen Tausendfüsslern, die sich igelartig zusammenrollen). Zusammengenommen gaben diese Lebewesen nur den winzigsten Ausschnitt des vielfältigen und massenhaften Bodenlebens wieder. Die Kinder zeichneten sie, so gut sie konnten, und hielten den Ablauf der Zersetzung von Buchenblättern mit Hilfe von Klebfilmstreifen oder Klebstiften auf Papier fest.
Damals, als junger Lehrer, war ich von der Vorstellung begeistert, dass bereits Zehn- bis Zwölfjährige mit den Grundzügen wissenschaftlichen Arbeitens vertraut gemacht werden können, und es schien mir damals bereits notwendig, Schulunterricht als Mittel gegen die zunehmende Zerstörung der natürlichen Umwelt aufzufassen. Deshalb wollte ich den Kindern vor Augen führen, wie alle Lebewesen miteinander verbunden sind und wie zwischen ihnen und ihrer Umwelt – Boden, Wasser und Luft – ein Austausch und eine Wechselwirkung bestehen.
Digitalisierung, «originale Begegnung» und die Grenzen der Schulbildung
Meine Erinnerung ist die Aufnahme aus einer vergangenen Zeit. Schulbildung – die Idee des Lehrplans und der Zwecke von Unterricht und Schulleben – ist in einem Prozess andauernder Veränderung.
Das Bildungswesen hat im Lauf der Jahrzehnte Ziele von der Art der Verwandtschaft und Verbundenheit aller Lebewesen hier und da aufgegriffen und mal mehr, mal weniger planvoll verfolgt. Meine fünfzig Jahre alten Vorstellungen über eine Verpflichtung des Unterrichts für den Erhalt der Welt sind sozusagen noch in Kraft, auch wenn andere Forderungen – derzeit etwa «Inklusion», «Digitalisierung» – nach Aufmerksamkeit heischen und obwohl die Zerstörung der Erde unvermindert fortschreitet. Aber die Art und Weise meines Unterrichts von damals über die andauernde Entstehung des fruchtbaren Bodens in unseren gemässigten Zonen dürfte für neue Generationen von Lehrern im heutigen Schulbetrieb nur schwierig nachzuvollziehen sein. Vielleicht ist es gerade deshalb interessant, an die verlorengegangenen Möglichkeiten zu erinnern.
Mit einer Schulklasse einfach in den Wald zu gehen, also einen «Unterrichtsgang» zu unternehmen, wie es im Jargon seinerzeit hiess, und den Kindern damit die Möglichkeit zu einer «originalen Begegnung» zu schaffen, wie das Heinrich Roth, einer der seinerzeit massgeblichen Unterrichtsexperten, genannt hatte – das ist inzwischen durch zahlreiche organisatorische oder auf juristische Bedenken zurückgeführte bürokratische Vorgaben erschwert. Latente Widerstände, die gegen die spontane Umwidmung eines Klassenraumes zum Waldbodenlabor mit Bergen von Zeitungspapier und Extra-Entsorgungsproblemen aufzubrechen drohen, könnten den Frieden manches Schulbetriebs ernsthaft gefährden. Noch schwerer, so scheint mir, fallen subtilere, aber habituell gewordene Orientierungen des Unterrichtsgeschäfts ins Gewicht: Buch und «Arbeitsheft» organisieren den Unterrichtsverlauf so, dass sich keiner anschliessend die Hände zu waschen braucht. Sie werden ausschliesslich zum Aufblättern des Buches oder zum Ausfüllen der Linien mit einem Stift in dem das Buch ergänzenden Heft benötigt.
Es erleichtert es Lehrerinnen und Lehrern, Übersicht und Ordnung zu bewahren, wenn sie die Zahl der zu kontrollierenden Einflüsse möglichst gering halten.
Die Gründe, die diese Tendenz zur vorherrschenden haben werden lassen, sind nur zu vermuten. Vielleicht haben sich einzelne zu kontrollierende Einflussgrössen derart verändert, dass der Preis für jeden Spielraum, den man ihnen lässt, zu hoch geworden ist. Schüler seien schwieriger geworden, heisst es, und Eltern mischten sich allzu sehr ein. Vielleicht handelt es sich um eine aller Arbeit innewohnende Entwicklungstendenz, die – analog der Verwandlung vom Handwerk zur Industriearbeit – auf eine Art Leistungssteigerung durch Standardisierung hinausläuft. Vielleicht steckt auch eine dem Schulwesen eigene Wertschätzung abstrakter Muster dahinter, die nicht nur die Fähigkeit zum abstrakten Denken als Begründung für die Verteilung der Schüler auf verschiedene Schulformen (unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansehens) erachtet, sondern allgemein das Geschick des Mundes im Umgang mit Wörtern über das Geschick der Hände im Umgang mit Dingen setzt. Ich jedenfalls glaube mich zu erinnern, dass die Wort- und Bildfixierung, die ich derzeit beobachte, vor fünfzig Jahren viel weniger ausgeprägt war. Möglicherweise kann die Orientierung an Buch und Heft als Vorstufe einer kommenden Digitalisierung des Unterrichts verstanden werden, bei der Lichtsignale auf Bildschirmen alle anderen greifbaren Gegenstände aus dem Unterricht ersetzen, aber gleichzeitig eine ganze Welt von Daten, Diagrammen und allen denkbaren Informationen herbeiprojizieren werden.
Möglicherweise eröffnet der digitalisierte Unterricht neue Lernwege und neue Chancen für den Gewinn von Einsichten, die ihren Teil dazu beitragen können, das Unheil der Zerstörung abzuwenden. Die Methoden der Schule spiegeln bis zu einem Grade stets die innere Verfassung der Gesellschaft. Es wäre interessant, den alten Weg von der Erfahrung der Dinge im «händischen» Umgang hin zur begrifflichen Vorstellung mit dem neuen Weg der Informationsverarbeitung im Hinblick auf die verschiedenen Lebenswelten miteinander zu vergleichen, die sie jeweils ausdrücken: Welche gesellschaftlichen Erwartungen, welche Bildungsideen erscheinen als jeweils massgebliche?
Ganz unabhängig von den jeweiligen Vorstellungshorizonten schreitet die Zerstörung der Biosphäre und die Degradation (Qualitätsabbau des Bodens und der Wälder) und Toxifikation (Vergiftung von Organismen oder Substraten wie Luft oder Wasser) weiter