Lasst uns um Europa kämpfen. Nini Tsiklauri
der einzige Richtung Westen. Wenn wir dort nicht durchkommen, schaffen wir es nicht. Die S1 ist unsere einzige Chance«, sagte mein Vater leise, aber eindringlich. »Wenn wir zurückbleiben«, er machte eine Pause, »werden sie uns töten.«
Es war sehr früh am Morgen, aber für mich machte es keinen Unterschied. Ich konnte ohnehin nicht schlafen, seit der Krieg begonnen hatte. Unter meinem Kopfkissen lag ein Foto von meinen Freunden aus Deutschland. Ich schaute mir jedes der Gesichter an, als würde ich es nie Wiedersehen, und weinte leise. Dann betete ich still, für meine Familie, für meine Freunde und für alle Menschen in diesen frühen August-Tagen in Georgien, wo um Südossetien und Abchasien gekämpft wurde.
Für alle anderen Menschen, die darüber in den Nachrichten hören, ist es der sogenannte Kaukasus-Krieg. Für uns, die wir ausgerechnet in diesem August aus Deutschland wieder einmal heimgekommen sind, um unsere Verwandten zu besuchen, ist es die Angst, von einer Bombe getroffen zu werden, bevor wir das Land wieder verlassen können. Ich lag im Bett und dachte an meine Oma. Ich weinte und hielt mich an meinem Foto fest.
Nun sitze ich in dem kaputten Geländewagen und fühle das Foto in meiner Hosentasche. Das Blau des Himmels, in dem ich angestrengt nach Flugzeugen Ausschau halte, blendet mich. Ich schaue auf meine Füße hinunter. Meine Stiefel sind seit heute morgen fester zugebunden als sonst. Für alle Fälle.
Die leere Straße nach Gori ist unheimlich. Es ist, als ob das Land ausgestorben wäre. Gori, denke ich, dort ist Stalin geboren. Was für ein sinnloser Gedanke. Die Stille ist fast noch unheimlicher als die Leere. Nur der Wind zischt ab und zu mal laut durch die zerbrochene Windschutzscheibe. Wir holpern über zerbombten Asphalt.
»Sobald ihr Flugzeuge am Himmel seht, halten wir an«, sagt mein Onkel, der darauf bestanden hat, uns zu fahren. »Wir bleiben stehen, hört ihr, sofort, ihr steigt aus und legt euch mit ausgestreckten Armen in die Wiese. Das ist wichtig. Ist das klar?«
Ich suche wieder den Himmel ab. Das Blau kommt mir immer absurder vor, Urlaube über dem Krieg. Ich greife zu dem Foto in meiner Hosentasche, taste, ob es noch da ist. Ein Geräusch reißt uns aus der Stille. Ich habe das Gefühl, es reißt mir die Ohren weg. Eine Bombe ist explodiert. Direkt vor uns. Auf der Straße. Ein paar Meter weiter vorne und wir wären tot. Dunkler Rauch steigt auf und formt einen riesigen Pilz am Himmel. Wir steuern genau auf ihn zu.
»Wir müssen da durch«, sagt mein Onkel, seine Stimme ist fest. Er drückt aufs Gaspedal. »Wir dürfen jetzt nicht umkehren.«
Wir preschen hinein in die rauchende Dunkelheit. Gleich darauf brennt es um uns herum. Alles steht in Höllenflammen, schwarzer Rauch nimmt uns die Sicht. Die kaputte Windschutzscheibe schützt uns nicht vor der lodernden Luft, sie brennt in der Lunge. Wir sehen nicht einmal mehr die Kühlerhaube, gleich darauf ist das Wageninnere schwarz verqualmt. Ich spüre jeden einzelnen Herzschlag, vergesse zu atmen. Es ist brennend heiß, das Metall der Karosserie glüht. Die Hitze ist unerträglich. Mein Bruder klammert sich noch fester an mich, er schluchzt. Ich ziehe ihn an mich und halte ihn. Ich schließe die Augen. Will weg aus diesem Albtraum.
Ich nehme meine kleine Digitalkamera aus der Tasche und drücke auf rec wie auf Autopilot. Ich sehe das Feuer, die zerbombten Häuser und Autos am Straßenrand durch das Objektiv. Ich filme die Bombeneinschläge vor uns, die Zerstörung und unsere zerschossenen Scheiben. Ich nehme alles auf und mit.
»Lieber Gott«, flüstere ich und mache die Augen wieder zu. Wenn ich das hier überlebe, dann werde ich alles tun, um hier etwas zum Positiven zu verändern. Ich werde es selbst in die Hände nehmen und alles in meiner Macht Stehende für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit tun. Es ist wie ein Schwur, den ich mir selbst gebe in diesem Höllenfeuer. In gespenstischer Gleichzeitigkeit wird es heller vor uns. Der Wagen durchstößt den Rauch, hüpft heraus wie aus einem Feuerball.
Ich drehe mich um, schaue ein letztes Mal nach hinten, als eine Schranke herunterfällt. Er stoppt die Autos hinter uns, und alles verschwindet in dem dunklen Qualm.
STERNENWANDERN
Ich darf mich jetzt einmal ordentlich vorstellen: Mein Name ist Nini Tsiklauri. Ich bin das Mädchen, das im Höllenfeuer vor Gori geschworen hat, alles in seiner Macht Stehende für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu tun, sofern ich lebend dort rauskomme. Damals war ich sechzehn, ich bin lebend herausgekommen und habe Wort gehalten. Ich tue das in meiner Macht Stehende. Seit zwölf Jahren. Nicht zuletzt mit diesem Buch.
Ich bin die Nini Tsiklauri, die ihre Wurzeln in Georgien hat und in Ungarn und Deutschland aufgewachsen ist. Obwohl Georgien nicht zur EU gehört, ist meine Geschichte eine durch und durch europäische Geschichte.
Deshalb bin ich auch Nini Tsiklauri, die Europäerin. Die junge Frau mit dem blau-gelben Herzen, das für die Europäische Union schlägt. Ich war Schülerin, ich wurde Schauspielerin, jetzt bin ich Aktivistin für eine Gemeinschaft der Europäer, die unerschütterlich zusammenhält.
Komisches Gefühl, wenn ich das für euch so kurz zusammenfasse. 28 Jahre im Schnelldurchlauf. Aber das ist sie, die Essenz meiner seltsamen Lebensgeschichte, die so untrennbar mit meinem Engagement für die EU verwoben ist. Sie beginnt 1992 in Tiflis, wo ich auf die Welt kam, als sich mein Heimatland Georgien mitten in einem der schmerzhaftesten Kapitel seiner jüngeren Geschichte befand.
Gerade war der Kommunismus zusammengebrochen, seine Bollwerke gefallen. Die Berliner Mauer eingerissen, der Eiserne Vorhang demontiert, die Wende in Deutschland, der Untergang der Sowjetunion. Was Jahrzehnte lang als eine der beiden Weltmächte galt, begann in der Form, wie man sie so lange gekannt hatte, von der Landkarte zu verschwinden. Die Westmächte und der Ostblock. Diese Zweiteilung der Welt war Geschichte. Sie bekam ein anderes Gesicht.
Für Georgien hieß das die langersehnte Freiheit, das Land erlangte seine Unabhängigkeit. Gleichzeitig aber steckte es in einer tiefen Wirtschaftskrise. Russland hatte 1990 eine Wirtschaftsblockade verhängt, unter der Georgien fast in die Knie ging. Dazu der Bürgerkrieg in den georgischen Regionen Südossetien und Abchasien. Im Westen wurden die Kämpfe als von Georgien ausgehende Rückeroberung zweier Provinzen ausgelegt. In Wahrheit nutzte Russland die Separatisten in Abchasien und Südossetien für Massenmord und Vertreibung der dort lebenden Georgierinnen und Georgier. Eine Viertelmillion Menschen wurde dort aus ihrer Heimat vertrieben. Aus der langerkämpften Hoffnung meiner georgischen Landsleute auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit war schnell ein Albtraum geworden.
Gescheitert und um Macht ringend, hielt Moskau an etwas fest, das der Hoffnung die Kehle zudrückte. Die knapp vier Millionen Georgier in diesem kaum siebzigtausend Quadratmeter kleinen Land fühlten sich ihrer Zukunft beraubt. Und ich spreche da nicht von lebensfremder Politik. Ich spreche von Realität und Alltag. Von persönlichem Erleben. Wie alle anderen war auch meiner Familie und mir die Aussicht auf ein Leben in einem offenen Land genommen. Verwehrt, bis zum heutigen Tag. Zerstört war die Perspektive Georgiens, jemals ein Teil der westlichen Welt, der EU oder der NATO zu werden.
Da bin ich also, 1993, ein Baby, noch kein Jahr alt. Ich liege in den Armen meiner jungen Eltern an einer großen, alten postsowjetischen Bus-Station, umgeben von Bürgerkrieg, Wirtschaftskollaps, Arbeitslosigkeit, Elend und Armut. Meine Großmutter, so erzählte man es mir, wischt sich hastig die Tränen von den Wangen. Tränen nützen nichts in Momenten wie diesen. Wir müssen stark bleiben, das war schon immer der Satz, der die Familie aufrecht und zusammenhielt.
Die Monate davor hatten wir bei Oma auf dem Land verbracht. Tiflis war ein gefährliches Pflaster geworden, insbesondere mit einem Baby wie mir. Die Hauptstadt stand mitten im Schusswechsel. Doch die Umstände waren auch am Land immer schlechter geworden. Die lückenhafte Lebensmittelversorgung, die kaum vorhandene Infrastruktur, die organisierte Kriminalität, ein kleines Land lag in einem riesigen Scherbenhaufen.
Das größte Ziel meiner Eltern war eine lebenswerte Zukunft für ihre Kinder. Wir sollten es später nicht nur besser, wir sollten alle Chancen haben. Wie die Dinge lagen, war das in Georgien nicht möglich. So etwas geht nur