Lasst uns um Europa kämpfen. Nini Tsiklauri
Schwarz-Weiß-Foto aus an, ein gewisser Stalin. Inzwischen habe ich das Bild schon in einigen Häusern gesehen. Beliebter Typ, denke ich, beiße in mein Rosinenbulki und erledige nebenbei meine russischen Hausaufgaben, die mir zusehends besser von der Hand gehen.
Auf dem Weg zum Bus begleitet uns Meriko. Sie ist Omas beste Freundin, eine herzige, introvertierte und hilfsbereite Person, die gerne lacht und immer und überall einen korall-pinken Lippenstift trägt. Meriko wohnt in der Stadt, hilft Nana aber bei den Einkäufen. Hemdsärmelig schleppt sie die massiven Tierfuttersäcke in den Bus und verabschiedet sich. Ich sitze auf meinem Stammplatz über der Motorhaube neben Bitschiko Babua, er reserviert den Platz nun schon für mich. Er schenkt mir wieder sein breites Grinsen und ein paar Anekdoten, während er den orangen Bus in den Sonnenuntergang fährt.
Die vier Jahre in Georgien von 1998 bis 2002 waren eine Mischung aus harter Arbeit, jeder Menge Disziplin und der bedingungslosen Liebe meiner Familie für uns in einer Welt ohne jegliche Zukunft. Trotzdem lernte ich dafür. Neben Georgisch und Russisch konnte ich bald auch etwas Deutsch. Die Georgier lieben die Sprache, vor allern wegen der deutschen Lyrik, die vermutlich nirgends so viele Fans hat wie hier. Ich gab mir Mühe im Unterricht, und sie wurde belohnt. Ich schloss als Stufenbeste mit Auszeichnung an einer höheren georgischen Schule ab. Und dann schrieb ich einen Brief an den damaligen Präsidenten Eduard Schewardnadse. Ich bat um ein Stipendium, bekam aber nie eine Antwort.
Ich hatte mich an mein neues Zuhause gewöhnt. Es hatte einige Zeit gedauert, aber nun hatte ich das Gefühl, hier leben zu können. Ausgerechnet da stand eines Tages im Sommer 2002 plötzlich das Auto meiner Eltern vor der Haustür. Sie brachten interessante Neuigkeiten mit. Über ihr Studium in Tiflis hatte sich die Möglichkeit ergeben, an einer Uni in Deutschland weiterzustudieren. Wir hatten kaum Zeit, die Nachricht zu verdauen, es würde ziemlich bald losgehen, erzählte mein Vater bei einer kühlen Estragon-Limonade.
»Lange nachdenken können wir nicht, es ist alles mehr oder weniger in Stein gemeißelt«, sagt er. »Es ist eine Chance, die wir nicht verpassen können.«
Ich bin verwirrt und aufgeregt. Ich kann es noch nicht glauben. Ein Traum wird wahr. Deutschland. Germania. Nemetorszag. Dorthin will ich schon, seit die Ungarn so sehr über die Deutschen hergezogen sind und über die Europäische Union geschimpft haben. Ich kann ein paar Gedichte von Goethe aufsagen, da kann ja nichts schiefgehen. Es dauerte etwas, bis ich realisierte, dass dieser Aufbruch auch ein Abschied war. Ich musste Nana zurücklassen, meine geliebte Oma und ihre kleine fröhliche Welt. Und es würde kein Ausflug sein, von dem wir bald zurückkämen. Es war ein Abschied für lange. Wir wussten, dass wir uns erst mal nicht wiedersehen konnten.
Es ist so weit. Wir versuchen, tapfer zu bleiben. Meine Oma wischt sich ein paar Tränen ab, wie damals, als wir nach Ungarn aufbrachen. Ich bin kein Baby mehr, sondern ein Schulkind, und statt in den Bus steigen wir in unser Auto. Ich reiße mich zusammen, bis wir losfahren, und ich vor Weinen schreie, als Nana und das Haus durch die hintere Autoscheibe immer kleiner wurden. Unser Hund Kusa bellt und rennt uns noch lange hinterher, als würde er das Auto anhalten können. Wir werden immer schneller, er kommt nicht mehr mit. Auch er war nur noch ein kleiner weißer Fleck in der regnerischen Landschaft, der langsam verschwand.
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