Einsame Klasse. Felix Lill

Einsame Klasse - Felix Lill


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finden wir bestimmt auch schnell.« Wir nahmen einander in den Arm und schwiegen, obwohl nicht viel geklärt war. Ungewissheiten lassen sich nicht gut diskutieren. Kurz vorm Boarding stießen wir auf unsere gemeinsame Zukunft an, mit zwei kleinen Sektflaschen, die eine mit Sissi-Etikett und die andere mit Franz Josef. Als Erinnerung an unsere Studienzeit in Wien hatte ich sie besorgt, kitschig bunt und rosig. Eine Frau, die ihren Freund Babe nennt, ließ sich durch solche Ideen begeistern. Lena musste lachen, als sie die Flaschen sah. »Auf uns!«, sagten wir in synchronem Singsang. In Eile spülten wir unsere Sorgen runter und brachten sie noch am Flughafen von Dubai auf die Toilette. Damit sie uns ja nicht im neuen Leben störten.

      Was für Sorgen eigentlich? Ich hatte das zwar nicht vor, aber Lena quälte der Gedanke, ich könnte mich irgend wann doch für andere Frauen interessieren und mit der Nächstbesten verschwinden. Das, was sie in mir sah und meinen »Freiheitsdrang« nannte, zog sie an und stieß sie ab. Ich mochte ihren Hang zum Planen nicht, gleichzeitig tat mir eine Portion davon sehr gut. Eigentlich war doch alles in Ordnung. Wir teilten viele gemeinsame Erfahrungen, gingen uns nur selten auf die Nerven und hatten gemeinsame Freunde, auch wenn die sich auf mehrere Städte in verschiedenen Ländern verteilten. Wir stritten heftig, versöhnten uns umso süßer. Unser alberner Humor harmonierte meistens, unsere Körper passten immer, wenn sie sich umarmten, wie ein maßgeschneidertes Hemd. Wir hörten einander gerne zu, mochten uns riechen und sorgten uns ehrlich um das Wohlergehen des Anderen. Stundenlang konnte ich ihr zuschauen, mich an ihrem Anblick und dem Gedanken an sie erfreuen. Ein langweiliges Leben mit ihr kam mir schon deshalb undenkbar vor.

      Von den neun Stunden Flug schliefen wir gut die Hälfte, und als wir ankamen, rasten unsere Pulse. Unser neues Leben begann Händchen haltend hinter der Zollkontrolle. Als wir unsere Koffer aus dem Flughafen geschleppt und mit einem Zug, der so ruhig fuhr wie ein Fahrrad, aber so schnell wie ein Sportwagen auf der Autobahn, die Stadt erreicht hatten, hielten wir das nächste Taxi an, das wie alle anderen ziemlich edel aussah. Der Fahrer, in Anzug und mit weißen Handschuhen, bestand darauf, unser Gepäck für uns in den Kofferraum zu heben. Die Sitze waren mit Decken verziert, die an die Rüschengardine meiner Oma erinnerten. Der Wagen fuhr uns gemächlich zu einem Maklerbüro, das Lena online gefunden hatte. Von dort sollten wir, wie man ihr versprochen hatte, noch am selben Tag in eine möblierte Wohnung ziehen können. Der Taxifahrer setzte uns an einer stark befahrenen Ecke im Stadtteil Nakano ab, ein geschäftiges Wohnviertel im Westen des Zentrums, weder arm noch reich, laut Reiseführer nicht für seine Schönheit bekannt. Unser Trinkgeld lehnte der Taxifahrer ab, Zuwendungen solcher Art akzeptiere man hier nicht, gab er uns irgendwie zu verstehen. Im Maklerbüro, das wir von der Straße aus wegen der mit Drucken von Häusergrundrissen beklebten Fensterwand erkannten, fanden wir tatsächlich gleich eine Wohnung, die möbliert war, nicht allzu teuer, nicht allzu winzig. Verglichen mit dem jedenfalls, worauf wir gefasst waren. Ein Schlafzimmer mit Schrank in der Wand, mehr oder weniger wild zusammengewürfelte Möbel, eine Wohnküche und ein Bad. Alles auf 21 Quadratmetern, für knapp eintausend Euro im Monat. Unverschämte Preise waren wir aus London gewohnt, Tokio toppte das noch. Als wir in der Wohnung standen, uns zustimmend zugenickt und den Vertrag gleich unterschrieben hatten, übergab uns der Makler bei seinem eineinhalb Schritte kurzen Weg zur Wohnungstür den Schlüssel, und wir fielen uns in die Arme.

      Der Tokioter Herbst neigte sich dem Ende zu, in den Parks, wo sich die Baumkronen seit Wochen gelb und rot färbten, verschwanden allmählich die Blätter. Lena und ich mussten unseren Alltag richtiggehend suchen in dem, was für uns nicht alltäglich war, einer fremden Stadt, einem fremden Land, mit fremder Sprache und fremder Kultur. Ihr Praktikum bei einer Nichtregierungsorganisation für erneuerbare Energien gefiel ihr mäßig, mein Studium langweilte mich ein wenig und die Verkäufe journalistischer Geschichten liefen auch nicht wie erhofft. Das war aber kein Untergang. Ein Praktikum macht man übergangsweise, mein Studium neigte sich ohnehin dem Ende zu, und die Arbeit würde schon werden. Ich kannte mich hier ja selbst noch nicht aus. Immerhin hatten Lena und ich nicht auch noch Streit. Sie machte Essen, ich wusch ab, sie machte die Wäsche, ich legte alles geordnet in unseren gemeinsamen Schrank. Es war eng, dafür kuschliger.

      »Wir funktionieren doch ganz gut, oder?«, sagte Lena eines Morgens, als sie sich anzog und ich Kaffee kochte. Das fand ich auch. Und wir fanden Freunde. Die Nachbarn aus der Wohnung unter uns, ein dänisch-japanisches Paar, führten uns in ein Izakaya aus, eine Mischung aus Kneipe und Restaurant, wo sich die Leute abends nach der Arbeit zum Essen und Trinken treffen. Rauch legte sich über die Tische, die keinen halben Meter über den Boden reichten und vor denen man auf dünnen Kissen im Schneidersitz Platz nahm. Wir erzählten voneinander, was uns hergebracht hatte. Annette, die Dänin, war Yogalehrerin. Ihre Freundin Miyuki, die Lena gleich ganz offen um ihr schwarz schimmerndes kräftiges Haar beneidete, das sie zur Bürste geschnitten trug, lebte schon immer in der Stadt und war wie ich Journalistin. Im Izakaya verbreitete sich Feierabendfreude, die Tische vollgestellt mit Reis, rohem Fisch, frittiertem Gemüse, Bier und heißem Reisschnaps.

      »Auf Tokio!«, rief Miyuki.

      »Auf uns in Tokio!«, rief Annette.

      Lena wollte wissen, wie es sich hier lebe, als lesbisches Paar.

      »Die Wahrheit ist, dass es ein bisschen heimlich ist«, gestand Miyuki. Ihre Freunde wüssten Bescheid, Miyukis Eltern nicht. »Die fragen aber auch nicht«, fügte sie hinzu, ehe wir hätten nachfragen können.

      »Also kein Versteckspiel«, versuchte ich richtig zu verstehen.

      »Nein, eigentlich nicht. Das Liebesleben ist Privatsache. Danach fragt man eigentlich nicht einfach so. Auch die Eltern nicht.« Offiziell lebte Miyuki in einer WG. Annettes Eltern hingegen wussten Bescheid darüber, dass ihre Tochter in der Ferne mit einer anderen Frau lebte und diese auch liebte. »Manchmal frage ich mich, was besser ist«, meinte Annette. »Wenn man sich hier nicht outet, bringt das auch Freiheiten. Du kannst dir quasi eine zweite Identität zulegen. Zuhause bin ich immer gleich die Lesbe.«

      Im riesigen Tokio, das hatte ich mir angelesen, bringen die Gay Pride-Demonstrationen jedes Jahr nur einen Bruchteil der Menschenmengen auf die Straße, die sich in viel kleineren Städten wie Berlin oder London mobilisieren lassen.

      Dafür war in Japan so gut wie nichts von gewalttätigen Übergriffen gegen queere Personen zu lesen. »Was ist einem lieber?«, stellte Annette in den Raum. So wenig optimal die Situation auch hier war, Annette und Miyuki konnten sich darin einrichten.

      »Tokio ist biegsam«, sagte Miyuki. »Du musst nur deinen Platz finden und die Richtung, in die du dich ausdehnen willst.«

      Bald meinte ich zu verstehen, was Miyuki meinte. Diese Wahnsinnsstadt entschädigte für alles, was noch nicht nach Plan laufen wollte. Das Schrille, wegen dem man Japans Hauptstadt aus dem europäischen Fernsehen zu kennen meint, war schnell zu finden: die bunten Leuchtreklamen, quietschige Popmusik und Sonderangebote, verbreitet durch Mikrofone auf Einkaufsstraßen, alte Frauen mit lilagefärbtem Haar, Cafés für Katzen, Hunde mit Sonnenbrillen. Im krassen Gegensatz dazu gab es auch totale Zurückhaltung. In unserer Nachbarschaft herrschte abends ab zehn Friedhofsstille, auf der Straße kein Müll, keine Kriminalität, nicht mal hupende Autos und auch kaum Stau. Das alles in einer Metropolregion mit 37 Millionen Menschen. Eine Stadt, die täglich bebt vor Energie, ihren Puls aber so geschmeidig kontrolliert wie kein anderer Ort, der mir bekannt war. All die typischen Probleme von Ballungszentren lösten sich hier, bevor sie entstanden, durch moderne Technologie, eine rücksichtsvolle Bevölkerung und kluge Stadtplanung. Verschlafen oder berechenbar war Tokio trotzdem nicht. An dieser Stadt könnte ich mir ein Beispiel nehmen, dachte ich nicht nur einmal.

      Immerhin in Unberechenbarkeit machte ich mich immer besser. Nach den täglichen Uni-Aufgaben zu Asiens Finanzmärkten, Japans Handelspolitik, oder dem Einfluss von Deflation auf das Wirtschaftswachstum, wandte ich mich journalistischen Themen zu. Vieles vom Studium konnte ich gleich verwerten. Zum Beispiel eine Story darüber, wie wenig volkswirtschaftlichen Sinn es ergibt, dass Japan sich so vehement gegen Immigration stemmt, wo das Land angesichts der alternden Bevölkerung doch dringend junge Arbeitskräfte braucht. Oder wie geschickt Roboter allmählich ins Alltagsleben integriert werden, vom Gesundheitswesen bis zu Einkaufszentren. Bald verkaufte ich meine Arbeiten besser, auch die ersten Sätze auf Japanisch konnte ich einigermaßen verständlich aussprechen. Lena


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