Sand Talk. Tyson Yunkaporta

Sand Talk - Tyson Yunkaporta


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zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, und er lässt mich an einigen erstaunlichen Ideen teilhaben, doch dann laufen unsere Denkwege auseinander, der Austausch ist zu Ende, und wir finden auch nicht mehr richtig zu ihm zurück. In der indigenen Welt kannst du niemanden zwingen, Wissen mitzuteilen – du akzeptierst einfach, was man dir mitzuteilen für richtig hält. Meistens ziehen sich die Wissensbewahrer zurück, wenn sie in ihrem Gegenüber Narzissmus zu spüren vermeinen, und ich weiß, dass ich diesen Yarn in einem falschen Bewusstseinszustand angegangen habe. Die Körner, die mir Percy überlässt, picke ich freilich dankbar auf.

      Meine Yarns mit Percy veranlassen mich, mich noch einmal mit Schrödingers Katze zu beschäftigen, der beste Weg für Uneingeweihte, die Unschärferelation zu verstehen. In diesem berühmten Gedankenexperiment stellt man sich vor, eine Katze, die vergiftet wurde, in eine Kiste zu sperren. Da man sie nicht sehen kann, weiß man nie, ob sie schon gestorben ist, das heißt, die Katze ist gleichzeitig tot und lebendig. Der Vorgang der Beobachtung, dass die Katze atmet, macht sie gewissermaßen lebendig, und der Vorgang, sie zu sehen, wie sie einen mit erloschenen Augen, erstarrt in einer von Todeskampf und Panik gemalten Maske, fixiert, macht sie tot. Jesus.

      Aus der kosmologischen Sicht der Aborigines ist das Problem der Unschärfe gelöst, wenn man sich als Teil des Felds versteht und seine Subjektivität akzeptiert. Wenn du unbedingt wissen willst, was in der Kiste ist, nimm selbst das Gift und klettere hinein. Nach meinen Yarns mit Percy verstehe ich die Unschärferelation nicht mehr als Gesetz, sondern als Ausdruck der Frustration, nicht zu einer gottähnlichen wissenschaftlichen Objektivität gelangen zu können.

      Heutzutage müssen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sämtliche Spuren von sich aus den Experimenten entfernen, denn sonst gelten ihre Daten als kontaminiert. Kontaminiert womit? Mit der schmutzigen Realität des Dazugehörens? Der toxischen Erkenntnis, dass wir, wenn wir uns nicht außerhalb eines Feldes befinden, es nicht besitzen können? Ich sehe nicht, dass sich die Wissenschaft so bald indigener Forschungsmethoden annehmen wird, denn Indigenes Wissen ist nicht wegen des Wie, sondern wegen des Was, nicht als Quelle eines Wissensprozesses, sondern als Ressource, die geplündert werden kann, gefragt. Zeige mir ein paar Pflanzen, damit ich ein Präparat daraus herstellen und zu Arznei verarbeiten kann!

      Ich kann in Gedankenexperimenten mit Katzen in Kisten keine Nachhaltigkeitslösungen erkennen, sehe aber Möglichkeiten in dem oben erwähnten, aus drei Frauengenerationen geschaffenen Muster. Es zeigt mir, dass man sich in einem System, das sich in einem andauernden Zustand der Bewegung und Anpassung befindet, bewegen und anpassen muss. Und damit auch, wie uns-zwei das System auf nachhaltige Weise beeinflussen können – jeder Versuch, das System von einem außerhalb befindlichen, festen Standpunkt kontrollieren zu wollen, ist ein fehlgeleiteter Eingriff, der scheitern wird. Wie also kann beispielsweise eine Gesellschaft auf eine weltweit instabile Finanzlage reagieren? Uns-zwei könnten aus der Urgroßmutter-Nichten-Geschichte ein Gedankenexperiment ableiten – in einer Simulation des Universums, wie es von diesen drei Generationen starker und das tragende Sozialgefüge einer erweiterten Familie bildenden Frauen erlebt wird.

      Durch ihre Augen können wir vielleicht in all den großen ökonomischen Turbulenzen der letzten Jahrzehnte ein paar kleine Inseln der Nachhaltigkeit und des stabilen Wachstums erkennen, die letztlich auf einer Sache beruhen. Nein, nicht auf Gold. Auf der erweiterten Familie. Die Geldüberweisungsökonomie der Dritten Welt – also das Geld, das von den Leuten, die in die Erste Welt ausgewandert sind, nach Hause geschickt wird und in der Gesamtsumme nahezu den internationalen Hilfeleistungen entspricht – ist während der letzten Finanzkrise nicht zusammengebrochen. Sie ist, was viele Ökonomen verblüfft hat, in mancherlei Hinsicht sogar gewachsen. Die Massen verzweifelt armer Menschen, die in der Fremde arbeiten, schicken auch weiterhin Milliarden Dollar an ihre erweiterten Familien und Gemeinschaften nach Hause, und dieser ökonomische Vorgang stellt sich als schrumpfungsresistent heraus.

      Auch in Frankreich und Deutschland sind in dieser Zeit – wie in zwei Weltkriegen zuvor und ungeachtet des Zusammenbruchs europäischer Imperien – wirtschaftliche Aspekte, die mit der erweiterten Familie zu tun haben, stabil geblieben. Das verdankt sich gemeinschaftlicher Eigentumsgesetze, die es in dem globalisierenden System der Anglosphäre nicht gibt. Französischen und deutschen erweiterten Familien steht die Möglichkeit offen, Kapital kollektiv zu besitzen und mittelgroße Familienunternehmen zu führen, ohne dass dies alles nominell Eigentum einer Einzelperson ist oder von dieser kontrolliert wird. Damit lassen sich generationenübergreifende Besitzstände bilden. Diese Familienkreise verfügen über unterschiedliche Portfolios, arbeiten aber zusammen und bündeln mehrere Einkommen, womit sichergestellt ist, dass ihr Risiko gut verteilt ist. Sie bieten ein internes soziales Sicherheitsnetz und schützten sich somit untereinander gegen zufällig auftretende Austeritätsphasen und andere Turbulenzen.

      Australien würde vielleicht gut damit fahren, seine Wirtschaft gegen Einbrüche zu schützen, indem es Familieneigentumsgesetze und entsprechende Anreize einführte – dies kann, ein Nebeneffekt, auch die Sozialausgaben mindern und die Arbeitslosigkeit abbauen. Für den Fall, dass wir uns nicht ganz sicher sind, wie ein derartiges Modell aussieht, könnten wir uns von Australiens asiatischer Gemeinschaft beraten lassen, die offenbar bereits eine auf dem Modell der erweiterten Familie basierende informelle Ökonomie betreibt. Oder wir fragen einfach meine Omas.

      Dieses Kapitel sollte sich eigentlich um Physik drehen, ich weiß, aber heute lassen sich die einzelnen Felder ebenso wenig voneinander trennen, wie man sich selbst von einem Feld absondern kann. Unabhängig davon, in welchem Feld man sich gerade befindet, alles ist Natur und folgt deshalb denselben Naturgesetzen, derselben Physik. Aus deiner Sicht mag sich das Universum von jenem anderer Betrachtungsweisen unterscheiden, aber alle folgen sie den gleichen Gesetzen.

      Zwischen den Ersten Völkern und den Zweiten Völkern scheint jedoch, was das Wesen der Realität und die grundlegenden Seinsgesetze anbelangt, eine fundamentale Uneinigkeit zu bestehen. Das Gesetz der Ersten Völker besagt, dass aufgrund der unendlichen und sich erneuernden Verbindungen zwischen Systemen nichts geschaffen oder zerstört wird. Deshalb ist die Zeit nichtlinear und erneuert die Schöpfung in unendlichen Kreisläufen. Das Gesetz der Zweiten Völker besagt, dass die Systeme voneinander isoliert werden müssen und in einem Vakuum individueller Schöpfung existieren, dass sie zwar komplex begonnen, aber vereinfacht und heruntergebrochen werden müssen, bis sie ihr Ende finden. Weil alle Dinge demnach einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, ist Zeit linear.

      Erfunden wurde diese Idee von Aristoteles. Für ihn ist das Ende (telos) das Prinzip allen Wandels. Es handelt sich um einen merkwürdigen Fluch, der auf der Grundlage unvermeidlicher Abnahme und Vernichtung eine Illusion unendlichen Wachstums verlangt. Um das Erste Gesetz außer Acht lassen und Zeit geradlinig erleben zu können, sind die Zweiten Völker und ihre »Gefangenen« genötigt, rückhaltlos an dieses Paradox, das nur aufgrund des Ich-bin-besser-Trugschlusses möglich ist, zu glauben.

      Uns-zwei können Aristoteles jedoch dafür nicht die Schuld in die Schuhe schieben. Die Idee lag bereits in Form einer zivilisierenden Gründungsmythologie des Uroboros vor. Uroboros ist eine Metapher für Unendlichkeit – eine zu einem Ring gebogene Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sie enthielt jedoch bereits den gleichen Fluch, den gleichen Widerspruch: Wie kann diese Schlange ein Symbol der Unendlichkeit sein, wenn sie sich letztlich selbst auffrisst?

      Ich habe dieses Kapitel komponiert, indem ich aus einem Mulga-Baum einen boondi geschnitzt habe, eine hölzerne Keule, die wir in meinem Clan allerdings eher als yuk puuyngk oder Gesetzesstock bezeichnen. Das ist meiner Ansicht nach ein geeignetes Mittel, um zu erforschen, wie sich die Gesetze für Raum und Zeit zwischen den Ersten und Zweiten Völkern unterscheiden. Ich studierte die Gesetze der Thermodynamik und tauschte mich darüber (sowie über einige alte tote weiße Typen) mit Ältesten und mit Percy Paul aus, speicherte dieses Wissen in meiner inneren Karte der Great Dividing Range ab, des Großen Australischen Scheidegebirges, das den Körper der Regenbogenschlange darstellt. Es trennt übrigens gar nichts, sondern verbindet Systeme entlang eines gewaltigen Traumpfads. Parallel dazu verläuft eine andere Schlange in Form einer Teppichpython, das Great Barrier Reef, das im Übrigen keine Barriere ist, sondern eine weitere unendlich verbindende Erzählung. Mit Ältesten und Wissensbewahrern bin ich diesen Traumpfad von Caboolture nach Hinchinbrook Island entlanggereist.


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