Sand Talk. Tyson Yunkaporta

Sand Talk - Tyson Yunkaporta


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Wissen besteht weiter, weil jeder von uns einen Teil davon, wie bruchstückhaft auch immer, in sich trägt. Wenn man das Muster der Schöpfung verstehen möchte, spricht man mit allen und hört genau zu. Ist man mit diesem Muster vertraut, sind authentische Wissensprozesse leicht als solche auszumachen, jedes Teil spiegelt den Plan des gesamten Systems wider. Wenn das Muster vorliegt, ist das Wissen echt, gleich, ob der Sprecher einen Grasrock, einen Anzug oder eine Schuluniform trägt.

      Ich drehe also die Linse um.

      Ich berichte nicht für ein weltweites Publikum über indigene Wissenssysteme. Ich untersuche weltweite Systeme aus der Perspektive Indigenen Wissens. Die folgenden Symbole drücken dieses grundlegende Konzept als Handzeichen aus:

      Der Leser mag diese körperliche Geste als lebendigen Text verstehen, indem er das Bild nachahmt, wobei die linke Hand, seitwärts gerichtet und mit geschlossenen Fingern, ein Blatt, einen Bildschirm oder allgemein das aufgeschriebene Wissen repräsentiert, während die rechte Hand, mit ihren wie bei einer Felsbildschablone gespreizten Fingern, die mündlichen Überlieferungen und das Wissen der Ersten Völker repräsentiert. Zu der Geste gehört auch, die gespreizte Hand wie eine Linse vor die Augen zu halten, durch die die geschlossene Hand betrachtet wird.

      Das ist die in diesem Buch grundsätzlich verwendete Perspektive. Damit sie nicht in der Leere des gedruckten Worts verloren geht, habe ich die einzelnen Kapitel entsprechend der Dialogform mündlicher Überlieferungen aufgebaut: eine Reihe von Zwiegesprächen (yarns) mit verschiedenen Menschen, in deren Gegenwart ich mich nie ganz wohlfühle. Ich unterhalte mich mit ihnen, weil sie mein Wissen erweitern, mehr jedenfalls als diejenigen, die bloß wissen, was auch ich weiß. Manche nenne ich beim Namen, aber etliche andere sehen sich lieber nicht im Druck verewigt oder auf einen bestimmten gedanklichen Moment festgelegt; sie ziehen es vor, privat zu bleiben und, wie es in unserer Kultur Brauch ist, ihre Gedanken beim Ausspinnen von Geschichten zu entwickeln. Yarns sind wie Unterhaltungen, aber in der traditionellen Form, wie wir sie immer gepflegt haben, um Wissen zu erzeugen und weiterzugeben.

      Für die einzelnen Kapiteln habe ich die logischen Abläufe und Ideen, die sich aus diesen Yarns ergaben, erst in traditionelle Objekte geschnitzt, bevor ich sie in geschriebene Worte übersetzte. Gewählt habe ich diesen Weg, damit die Perspektive meiner mündlichen Kultur durch die Niederschrift nicht fragmentiert und verzerrt wird.

      Für diese Einleitung zum Beispiel habe ich zusammen mit meinem Schwager Hayden Kelleher und einem Worimi-Künstler namens Adam Ridgeway über mehrere Jahre Rindenschilde angefertigt. Mit Adam unterhielt ich mich über meine Bedenken und Befürchtungen, dieses Buch zu schreiben, und in Form von Yarns spielten wir durch, wie ich mich dabei zu schützen hätte. Als die Jahreszeit gekommen war, in der der Saft in den Bäumen fließt und die Wombats herumziehen und die Leierschwänze balzen, schnitten wir die Rinde von den Roten Eukalyptusbäumen. Wir formten Stücke davon über dem Feuer und brachten Griffe an, um Schilde daraus zu machen. Adam verwendete einige dieser Schilde für eine Kunstausstellung; er gestaltete Schöpfungsmuster aus dem Licht, das von auf die Schilde geklebten Spiegelscherben reflektiert wurde. Auch zeichnete er auf seinem iPad die oben gezeigten Handsymbole. Die Ideen dieser geschriebenen Einleitung sind also in den Schilden. Ich halte mir einfach diese Gegenstände vor Augen und übersetze Teile des Wissens, das ich auf ihnen sehe, in das gedruckte Wort.

      Das ist meine Methode, und ich nenne sie umpan, denn dies ist unser Wort für schneiden, schnitzen und fertigen – inzwischen ist es auch das Wort, das für »schreiben« verwendet wird. In meine Methode des Schreibens inkorporiert sind Bilder und Geschichten, die an Orte und Beziehungen gebunden sind und ihren ersten Ausdruck in kulturellen und sozialen Aktivitäten gefunden haben. Mein Inhaltsverzeichnis ist bildlich und sieht so aus:

      In jedem Kapitel kommt ein »Sand Talk« vor, mit dem an den Aborigine-Brauch erinnert wird, zur Weitergabe von Wissen Bilder auf den Boden zu zeichnen. Viel von diesem symbolischen Wissen kann ich hier nicht mitteilen, denn seine Weitergabe ist entweder beschränkt (durch Alter, Geburtsfolge, Geschlecht und Grade der Meisterschaft) oder nur für einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Gruppe geeignet. Ist zum Beispiel die Brolga-Überlieferung für mich als Angehörigen des Apalech Clans oder für andere mit demselben Totem relevant, heißt das nicht, dass dies allgemein für alle Leser und Leserinnen gilt. Das Wissen, das ich jeweils in dem Sand Talk der einzelnen Kapitel mitteile, ist deshalb Wissen auf Einstiegsniveau. Es wird auf Geschichten anspielen, sie aber nicht in Gänze erzählen. Ich werde allerdings Teile einer großen Geschichte erzählen, einer Meta-Geschichte, die sich mithilfe gewaltiger, durch Himmel und Erde gehender Traumpfade über ganz Australien erstreckt; es handelt sich dabei um einen Sternentraum (star dreaming), den Juma Fejo von den Larrakia mit allen Völkern teilen möchte. Dieses Dreaming geht überall hin, wo Schildkröten hingehen – und Schildkröten gibt es überall auf der Welt, selbst in Wüstengebieten –, also verbindet es alle.

      Juma und ich – uns-zwei – arbeiteten mit diesem Wissen und daran, diese Geschichten quer über den Kontinent miteinander zu verknüpfen, seit 2012, jenem Jahr, in dem, wie viele aufgrund einer abenteuerlichen Interpretation des Maya-Kalenders glaubten, die Erde untergehen sollte. Für ein tieferes Verständnis nehme ich in jedem Kapitel Teile von Jumas Dreaming auf. Es gibt sechs Bilder, drei an jedem Ende des Schildkrötenpanzers, die jeweils von einem Yarn begleitet werden. Die sieben anderen Bilder stammen von mir; ich habe sie in den Jahren, bevor ich mit meinem Doktorat begann, geschaffen, weil ich befürchtete, mein akademisches Wissen könnte mein kulturelles Wissen überdecken. Ich musste selbst erst etwas hervorbringen, das größer war als eine Doktorarbeit. Ich habe diese Ideen mit Menschen an vielen verschiedenen Orten geteilt, um ihnen, als Gerüst für die Erkenntnisse, die für die Ko-Kreation nachhaltiger Systeme nötig sind, einen Weg in das Denken und Wissen der Aborigines zu eröffnen.

      Ich war auf zahlreichen Konferenzen und Vortragsreihen über Indigenes Wissen und Nachhaltigkeit und habe zahllose Artikel zu diesem Thema gelesen. Die meisten überbringen die gleiche allzu einfache Botschaft: Die Ersten Völker sind bereits seit x-tausend Jahren hier, sie wissen, wie man im Gleichgewicht mit unserer Umwelt lebt, und wir sollen, um Lösungen für heutige Nachhaltigkeitsfragen zu finden, von ihnen lernen. (Ich frage mich oft, auf wen sich »wir« in diesen Äußerungen bezieht.) Daraufhin werden ein paar vereinzelte Beispiele nachhaltiger Praxis aus der Vorkolonialzeit aufgezeigt, und das ist es dann. Das Publikum bleibt zurück mit der Frage: »Ja, aber wie? Welche Einsichten bietet uns das für die Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind?«

      Solche Fragen bleiben unbeantwortet, weil die indigenen Teilnehmer für gewöhnlich nur formelhafte Ich-Erzählungen und Artefakte anbieten, ein Fenster, durch das Außenstehende zwar in eine sorgfältig kuratierte Vergangenheit blicken können, doch geht der Blick nur in eine Richtung. Wir geben nicht preis, was wir sehen, wenn wir durch dieses Fenster zurückblicken. Am Anfang gibt es eine Willkommenszeremonie und am Ende einen Tanz, und alle gehen gut gelaunt, aber kein bisschen klüger nach Hause.

      Nur selten werden Nachhaltigkeitsfragen globaler Natur unter dem Gesichtspunkt indigener Herangehensweisen und Denkprozesse angesprochen. Nirgendwo erblicken wir ökonometrische Modelle, die indigenes »Denken in Mustern« für ihre Modellierungen heranzögen. Stattdessen wird uns ein Dot-Painting präsentiert und dringlich darum ersucht, in Anbetracht der Pläne, die Bevölkerung einer Stadt binnen weniger Jahrzehnte »nachhaltig« zu verdoppeln, doch an Beschäftigungsprogramme für Indigene zu denken. Erörterungen indigener Wissenssysteme bestehen in der Regel in nichts anderem als der höflichen Anerkennung der besonderen Beziehung zum Land; ein wirkliches Engagement findet kaum je statt. Immer geht es um das Was und nie um das Wie.

      Dieses Phänomen möchte ich umkehren. Ich möchte das indigene »Denken in Mustern« dazu heranziehen, die gegenwärtigen Systeme zu kritisieren, und einen Einblick in das Muster der Schöpfung selbst gewähren. Das in der indigenen Literatur weitverbreitete Genre der Ich-Erzählung und der Autobiografie möchte ich vermeiden, werde aber zur besseren Veranschaulichung Anekdoten und Yarns einfließen lassen. Was ich sage, wird natürlich trotzdem


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