Droga do serca lady Lucy. Laura Martin
war alles so überraschend, es war irgendwie unwirklich, was da in ihrem Zimmer, inmitten der beschützenden Burg, geschehen war. Und zum ersten Mal fragte sie sich: Liebe ich ihn eigentlich, oder sind das nur andere Gefühle? Dann lagen sie schweigend nebeneinander, und auch Siggi hatte keine Weisheiten parat wie sonst, sondern legte nur ungewohnt sanft seine Hand zwischen ihre Beine und spielte ein wenig mit dem Zeigefinger - dort, wo sie empfindlich war und empfindsam. Sie ließ es geschehen und genoß es.
Plötzlich ertönte irgendwo im Hause ein Gong. Es klang nach Tempel und Buddha, aber Hilla richtete sich erschrocken auf: "Essenszeit," sagte sie, zog ihre Hose hoch und streifte das T-Shirt über. "Ich muß zum Essen gehen. Und du?" Er lachte, frech und aufsässig, wie es seine Art war. "Was soll schon sein? Ich komme mit. Hunger habe ich schon." Ehe sie noch Einwände vorbringen konnte, hatte er seine Kleidung in Ordnung gebracht und schloß die Tür auf. "Bitte, nach Ihnen, Gnädigste!" Aber er ging vorweg auf den Flur. Doch dann mußte er sich ihrer Führung anvertrauen.
Die wenigen Schritte zu dem Raum, den man in alter Tradition das Speisezimmer nannte, versuchte Hilla, ihre Kleidung und ihre Gedanken zu ordnen. Schließlich war eine Erklärung fällig, wenn sie plötzlich mit einem ungebetenen Gast erschien. Aber wieder war Siggi schneller: Als sie eintraten und sich die Augen der anderen erstaunt und fragend auf ihn richteten, sagte er wie gehabt: "Hallo, ich bin der Siggi, Hillas Freund. Sozusagen ihr Verlobter." Danach herrschte Totenstille. Hilla schwieg, weil sie nicht wußte, ob er das ernst meinte, ob sie protestieren mußte, ob sie einfach lachen sollte wie über einen dummen Scherz. Ihr Vater schwieg, weil es ihm schlicht die Sprache verschlagen hatte, weil es selbst für einen Zornesausbruch zu schnell ging. Ihr Bruder schwieg, weil er mit seinen Gedanken wieder einmal anderswo war, bei irgendeinem Geschäft, und er sie erst einmal zurückholen mußte, um zu verstehen, was da ablief.
Siggi brach als erster das gesammelte Schweigen. Er ging auf einen leeren Platz zu, sagte einfach "Ich darf doch" und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten. Doch dann wurde er ausgesprochen höflich: "Hilla hat mich eingeladen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich so unkonventionell" - er sagte wirklich "unkonventionell" - "hier hereinkomme. Ich hoffe, ich bereite Ihnen und der Küche keine Umstände." Und dann fügte er nach kurzer Pause hinzu: "Jedenfalls freue ich mich, Sie kennenzulernen. Das mit der Verlobung war natürlich scherzhaft gemeint - zumindestens ein wenig voreilig." Wie gewählt er sich plötzlich ausdrückt, dachte Hilla. Er kann also auch anders. Und irgendwie machte sie diese Erkenntnis traurig.
Inzwischen hatte ihr Vater sich wieder gefangen: "Es war in der Tat ein wenig überraschend für uns, Herr ..." Er wartete vergeblich darauf, daß Siggi ihm seinen Nachnamen verriet, darum fuhr er fort: "Unsere Tochter ist gelegentlich ein wenig spontan in ihrem Verhalten. Aber das ist wohl das Vorrecht der heutigen Jugend. Natürlich sind Sie uns herzlich willkommen." Er nickte dem jungen Mann zu, und der deutete tatsächlich so etwas wie eine leichte Verbeugung an, als wäre er in der Tanzschule.
Man legte noch ein Gedeck auf, das Hausmädchen - sie trägt doch wirklich ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze, bemerkte Siggi und verschluckte nur mühsam eine entsprechende Bemerkung - das Hausmädchen also hatte in der Küche geschickt umdisponiert und servierte auch dem vierten an der Tafel, als hätte sie mit ihm gerechnet. Siggi suchte ihre Augen, aber sie gab ihm keine Chance. Erst beim Abräumen konnte er ein dezentes Lob anbringen, was sie jedoch nur mit einem betont gleichgültigen Dank entgegennahm.
Das Tischgespräch - falls man es überhaupt so nennen konnte - verlief ziemlich einsilbig. Hillas Bruder schwieg weiterhin, ob nun aus Abneigung gegenüber dem Fremden oder weil seine Geschäfte ihn wieder eingefangen hatten. Hilla selbst hatte Mühe, einige belanglose Äußerungen einzuwerfen, so daß der Dialog weitgehend zwischen Siggi und dem Clanchef stattfand. Vergeblich versuchte Hillas Vater, den vollen Namen des Gastes zu erfahren, ohne direkt danach fragen zu müssen. Aber Siggi überhörte alle versteckten Anfragen, dafür gab er sich ausgesprochen friedlich, vermied alle provokativen Äußerungen, mit denen er sonst so gerne glänzte, beschränkte sich auf höfliche Gemeinplätze und wich allem aus, was über ihn selbst Rückschlüsse zuließ. Es war eine Meisterleistung nichtssagender Konversation, die er zum besten gab, und Hillas Vater registrierte das mit einer Mischung aus Ärger und Anerkennung.
Jedenfalls waren alle froh, als das Mädchen auch die leeren Dessertschüsseln abräumte, und der Alte verzichtete sogar auf den sonst fälligen Kognak danach, hob die Tafel auf und entschuldigte sich mit dringenden Angelegenheiten. Auch sein Sohn verschwand, kaum daß er einen Gruß über die Lippen brachte. Hilla saß noch da, starrte vor sich hin und wußte nicht, wie es nun weitergehen sollte. Siggi aber hatte wieder diesen arroganten Zug um die Mundwinkel, als er plötzlich in die Stille hinein sagte: "War doch ganz schön, oder?" Und als sie schwieg, stand er auf und sagte ziemlich schroff: "Ich glaube, ich gehe jetzt lieber."
Hilla brachte ihn bis zur Tür und blieb dann zögernd stehen. Irgendetwas muß ich jetzt sagen, irgendetwas, was nichts kaputtmacht, dachte sie. Aber ihr fiel nichts ein. Er öffnete die Tür. "Wie kommst du denn jetzt in die Stadt?" fragte sie, und ihr Verlangen war unüberhörbar, dennoch traute sie sich nicht, das andere zu sagen: Soll ich dich bringen? Er gab ihr keine Chance: "Mach dir keine Sorge, ich komm schon hin." Und dann, nach einem sehr flüchtigen Kuß, nur noch dies: "Bis bald!" Er sprang mit einem Satz über die drei Stufen hinweg auf den Kiesweg, lief, ohne sich umzuschauen, bis zur Gartenpforte und verschwand hinter der Hecke.
Hilla stand noch ein paar Minuten in der Tür, als hoffte sie, er würde noch einmal zurückkommen. Dann ging sie hinauf in ihr Zimmer, riß die zerwühlte Tagesdecke vom Bett und trampelte darauf herum. Plötzlich hielt sie inne, kniete nieder, nahm die Decke in den Arm und wartete, bis ihr endlich die Tränen kamen.
2. Siegfried
Warum - warum bin ich so, wie ich bin? Warum habe ich das getan? Es ist so leicht arrogant zu sein, den Überlegenen zu spielen, wenn man es erst einmal gelernt hat. Es ist so einfach, zu reden, immer nur zu reden, um nichts Wesentliches zu sagen. Dabei übertönt die eigene Stimme die Stimme in mir, die etwas ganz anderes sagen möchte und es doch nicht vermag.
Ich liebe dich doch, Hilla, will sie sagen. Ich will dich nicht verletzen. Ich will nur deine Nähe spüren, deine Wärme, deinen Körper. Ich will dich lachen sehen, will mich dir offenbaren, damit kein Geheimnis zwischen uns steht, damit Wahrheit ist - und dir so die Freiheit bleibt, mich zu lieben, oder auch nicht. Und ich will diese Freiheit dann aushalten, auch wenn sie wehtun könnte.
Warum also bin ich nicht so, wie ich sein möchte? Warum verstecke ich meine Gefühle hinter dieser Maske, statt sie dir einfach zuzumuten? Warum immer wieder Tarnung statt Offenheit? Ich habe sie mir erkämpft, diese Tarnkappe, das ist wahr. Ich bin dem Bösen begegnet, habe Haß erfahren und Gewalt, und ich habe ihm diese Maske abgerungen, die die Wahrheit verbirgt, weil Wahrheit manchmal tödlich sein kann.
Meine Erinnerung geht nicht weit genug zurück, um noch die Liebe zu spüren, die sie doch einmal empfunden haben müssen, meine Eltern, und die sie doch einmal auch mir zuteil werden ließen. Denn als mein Gedächtnis seine Aufzeichnungen begann, da berichtet es nur noch von Streit, von haßerfülltem Schweigen, immer wieder abgelöst von ebenso haßerfülltem Wortgefecht. Was mir damals blieb, war die Flucht - fort aus dem Teufelskreis dieser ewigen Schlacht, dieser ständig gekreuzten Klingen, irgendwohin, wo Stille war: ins Kinderzimmer zunächst und unter die Kissen, später dann in das Baumhaus im Garten, wo nur eine Drossel ihren Gesang gegen die mißtönenden Wortkaskaden aus dem Mund der Eltern setzte. Und endlich in eine mythische Welt, fernab aller Wirklichkeit, wohin mich meine Fantasie entführte - und wo ich endlich Mittelpunkt sein konnte, geliebt von geheimnisvollen Feen, geachtet von Baumgeistern und Faunen, gefürchtet von Riesen und Drachen. Den Drachen vor allen, die mein Zauberschwert töten konnte, wenn ich nur wollte. Es war diese Zauberwelt, die mich seither begleitet hat und die in den vielen Träumen - denen tagsüber ebenso wie in den Nächten - bis heute ihre eigenen Wirklichkeit schafft. So wurde ich zum Wanderer zwischen beiden: der inneren Wahrheit, die mich vor der Verzweiflung am Leben bewahrte, und der realen Welt, die mich kritisch werden ließ und oft genug auch zynisch, weil ich ihre Verlogenheit erfahren hatte seit frühesten Kindertagen.
Dann kam das Ende mit Schrecken,