Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende. J. H. Praßl
(Aus dem Tagebuch von Siralen Befendiku Issirimen, 349 nGF)
Siralen musterte Chara nachdenklich, als sie sich nach dem Aufstehen gegenübersaßen. Beide ließen ihre Essensration links liegen. Keine von ihnen hatte Hunger. Sie wussten, was sie erwartete. Chara ebenso wie sie.
Es war noch dunkel. Die Assassinin hatte ebenfalls geträumt. Sie und Chara hatten vermutlich dasselbe geträumt, so, wie sie es bereits mehrmals getan hatten. Und möglicherweise nicht nur sie beide.
„Das ist das Ding, das durch den Wind geht, eines Tages, wenn am Horizont ein Stern steht“, murmelte Chara. „Das ist das Glas, durch das auch dein Sand rieselt … ohne Warnung.“
„Wir haben gemeinsam geträumt, Chara?“ Wer hatte den Traum noch?
„Wer von euch träumte von der Stimme aus dem Nebel?“, stellte sie die Frage laut und blickte in die Runde.
„Ich!“, platzte Irwin heraus, bevor Darcean schweigend nicken konnte. „Das ist ganz bestimmt eine Warnung“, schob der Barde hinterher. „Es ist … es ist ein Zeichen, dass wir umkehren müssen. Lasst mich nur noch schnell meine Sachen packen, und dann …“
„MacOsborn!“, donnerte Chara, und Irwin riss die Augen auf.
Sie alle saßen und standen auf dem Felsplateau, auf dem sie nach Einbruch der Dunkelheit ihr Lager aufgeschlagen hatten: der Brigadier der Landstreitkräfte O’Hara, der Zwergenhauptmann der Pioniere Blutstein, seines Zeichens ein KEZS, sowie Magus Secundus Minor Mirok Jamaharon, Stellvertreter Ahrsa Kasais. Und das Expeditionskommando samt bedeutender und weniger bedeutender Berater.
„Während ich schlafe, geht mein einz’ger Wunsch verloren,
einmal gebraucht wird ein neues Spielzeug alt,
während ich schlafe, verliert ein Name seine Wirkung,
ohne Worte wird ein warmes Lächeln kalt“, rezitierte nun Darcean und sah überraschenderweise Chara dabei an.
Mirok Jamaharon rümpfte seine auffallend platte Nase, was den Verdacht nahelegte, dass er seinen Vorgesetzten Kasai nachzuahmen versuchte. „Was soll das bedeuten?“ Er wandte sich an Chara.
„Frau Pasiphae-Opoulos, Magus Primus Major Ahrsa Kasai klärte mich darüber auf, dass Ihr den größten Erfahrungsschatz habt, wenn es um Bizarres geht. Er sagt, Ihr hattet schon häufiger solcherlei Träume. Also, was denkt Ihr, wer schickt uns diesen hier?“ Siralen fand, er machte Ahrsa Kasai tatsächlich Konkurrenz.
„Ich weiß es nicht. Ich glaube nur nicht, dass das Chaosbündnis diesen Traum geschickt hat.“
„Dann meint Ihr also, die Dragatisten stecken dahinter?“, schlussfolgerte Jamaharon, und seine Augen wurden schmal. Fast schien es, als wollte er Chara eine Falle stellen. Jeder wusste, dass sie Lask Cischs Rat in Erwägung gezogen hatte.
„Während ich schlafe, stürzt ein Engel ohne Flügel,
kopfüber in die Ewigkeit hinab.
Während ich schlafe, weben Spinnen ihre Netze,
die letzten Sucher finden leider nur ihr Grab …“, vollendete Chara die Botschaft aus dem Traum. Dann klopfte sie sich den Sand von ihren schwarzen Hosen und kam auf die Beine.
„Nein, ich denke nicht, dass es die Dragatisten waren. Es ist nicht ihre Sprache, nicht ihr Stil. Aber möglicherweise täusche ich mich. Und bevor Ihr fragt, ich habe keine Ahnung, wer es sonst gewesen sein könnte.“
Damit hatte Jamaharon erst mal keine weiteren Fragen.
Siralen stand ebenfalls auf und spähte Richtung Osten. Die neben ihnen jäh in den Himmel stürmenden Felsformationen waren wie ein Bollwerk, das sie nicht beschützen konnte, auch wenn sie den Anschein erweckten. Der Feind konnte die felsendurchwachsenen Hügel im Nordwesten jederzeit umgehen. Das steinerne Plateau, das zwischen dem Hügelland und dem sandigen Wüstenkessel unter ihnen lag, war ein halbwegs sicherer Platz für ein Nachtlager gewesen.
Die Diskussionen über den Traum verzögerten den Lagerabbau. Abgesehen von Chara, die bereits gepackt hatte, mussten noch alle ihre Schlafsäcke und ihre Ausrüstung zusammensammeln. In zwei Glas würde die Sonne aufgehen und die Hitze unerträglich werden.
„Hört ihr das?“, murmelte Irwin, als sie kurz davor waren aufzubrechen.
Siralen spürte ein kaltes Kribbeln im Nacken. Ja, sie hörte es. Das dumpfe Donnern, das auf sie zurollte, war unverkennbar. Und was zunächst noch leise war und die Hoffnung aufkommen ließ, dass es womöglich vorüberzog, wurde allmählich lauter und ließ jeden Hoffnungsschimmer verblassen.
Trommeln …♫ Sie kamen von hinter den Dünen jenseits des Talkessels im Osten.
Und dann sahen sie den Schatten. Er zeichnete sich auf der höchsten Düne am östlichen Rand des Talkessels ab. Er war gewaltig. Zu groß, als dass man hätte neue Hoffnung schöpfen können. Jedenfalls wenn man davon ausging, dass er nicht alleine war.
Al’Jebal hatte wahr gesprochen. Es gab sie also – jene Wesen, halb Mensch, halb Skorpion, von welchen einst eines in Amalea aufgetaucht war.
Scorpios …
Die von den Felswänden widerhallenden Trommelschläge endeten abrupt. Sämtliche Augenpaare waren jetzt auf den Schatten östlich des Wüstenkessels gerichtet. Alle Soldaten, Zauberkundigen und Pioniere starrten den Wüstenkrieger an, der sich von der Düne dort erhob wie von einem steinernen Fundament. Als verkörperte er das gesamte Ausmaß der Bedrohung. Eine, die noch nicht sichtbar war, aber die mit seinem Auftauchen ein allzu greifbares Gesicht bekommen hatte. Ein Todesbote …
Siralens Handinnenflächen waren feucht geworden. Ein Blick in die Augen der Soldaten und es stand außer Frage, dass die Männer und Frauen im Grunde nicht wissen wollten, was sie hinter den Dünen und der Gestalt, die sich auf einer von ihnen erhob, tatsächlich erwartete. Sie konnte es ihnen nicht verübeln.
Unwillkürlich spähte Siralen zu Chara. Die Assassinin schien wie gebannt, ja fasziniert von diesem Wesen, das jedem von ihnen einen vernichtenden Eindruck seiner Verletzlichkeit vermittelte. Doch selbst Chara durfte allzu klar sein, dass Diplomatie hier der bessere Ratgeber war.
Egal, wie viele ihnen nun tatsächlich hinter den Dünen auflauerten, sie saßen in der Falle. Für eine Flucht war es zu spät. Diese Tatsache stand in sämtliche Gesichter geschrieben, die das gewaltige Wesen musterte, das sich dort auf dem weißen Sand abzeichnete.
Erneut wurden Trommelschläge laut. Das stumme Warten hatte ein Ende. Ein an den Nerven nagender rasselnder Laut zerriss den Morgen und fügte sich nach und nach in den aufdringlichen Rhythmus der Trommeln ein. Auf dem schmalen Grat der Düne tauchten drei weitere Gestalten anderer Größe und Farbigkeit auf. Rot, Braun, Sandfarben … Ein Anführer und seine drei … ja, was? Berater? Kommandanten? Schildmänner? Oder einfach nur drei weitere Kreaturen, die darauf aus waren, sie zu töten.
„Drei Fragen“, murmelte Chara an Siralens Seite.
„Wie bitte?“
„Gibt es etwas Fesselnderes als den Augenblick vor einem Kampf?“
Realisierte Chara überhaupt, dass sie neben ihr stand?
„Ist es möglich, dass wir am Ende dieses Tages noch leben?“
Chara nahm ihren Rucksack ab und ließ ihn auf den staubigen Boden fallen. Dann verfiel sie in Schweigen.
„Und drittens?“, fragte Siralen.
„Hm?“
„Du sagtest, es wären drei Fragen …“
„Ach so …“ Chara spähte zu Lindawen, der sich zusammen mit Kerrim vom Norden her näherte. „Vergiss es.“
Siralen runzelte die Stirn und folgte Charas Blick. Nach allem, was sie wusste, hatten der Lichtjäger und der Assassine schon in der Nacht die Gegend abgesucht, aber keine verstörenden Berichte über anrückende feindliche Armeen abgegeben. Ihre