Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende. J. H. Praßl

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl


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      Chara hob beschwichtigend die Hände und begnügte sich wieder damit, die beiden riesigen Wesen zu observieren.

      „Wie macht ihr esss, dasss sssie euch folgen? Wie kontrolliert ihr sssie?“

      Siralen entschloss sich, ehrlich zu bleiben. „Wen meint ihr?“

      „Die Ssschwarzen. Die, die ssschneller und ssstärker sssind alsss ihr, aber langsssamer als die Metall-Krieger.“

      Jetzt fiel die Münze. Siralen übersetzte schnell für Chara und hoffte darauf, dass sie eine adäquate Antwort wusste.

      „Sie folgen dem, für den wir kämpfen“, sagte Chara. „Sie folgen dem, der uns hierhergeschickt hat. Nicht wir, er kontrolliert sie.“

      Eine Weile musterte der Rote Chara, nachdem Siralen ihre Worte weitergegeben hatte. In seinem ehernen, aber dennoch menschlichen Gesicht spielte sich ein skurriler Wechsel von plötzlichem Verstehen und flammendem Zorn ab. Was genau er verstanden hatte, war freilich nicht auszumachen. Weshalb er zornig war, ebensowenig. Schließlich wurden seine Züge weicher und mit einem Mal sah es aus, als würde sich ein undefinierbarer Schmerz in sein Gesicht graben. Die Metamorphose war befremdlich, beängstigend unerwartet.

      Durch den Schlitz in der Zeltplane brachen die Strahlen der Sonne und warfen die riesigen Schatten der beiden mächtigen Wesen an die rückwärtige Zeltplane. Sachte zupfte der Wind an dem Leinen. Es knisterte, dann wurde es wieder still. Irwin zuckte in gekünsteltem Schlaf.

      „Issst er ein Tisssahne?“, fragte der Rote leise.

      Siralen sah ihn verständnislos an, übersetzte aber für Chara.

      „Thanatane“, flüsterte Chara. „Tisssahne heißt Thanatane.“

      „Nein, das ist er nicht“, erwiderte Siralen auf die Frage des Scorpios und sah aus dem Augenwinkel, wie Chara nachdenklich die Stirn runzelte. Oder etwa doch?

      Der Scorpio wechselte mit seinem braunen Gefährten erneut Blicke. Schließlich, als hätten sie sich in stummer Übereinkunft zum Rückzug entschieden, drehten sich die beiden um, verließen den Zelteingang und rückten mitsamt ihrer Eskorte aus schwarzen Wüstenkriegern ab. Nur zwei Wachen blieben neben dem Zelteingang zurück.

      Irwin MacOsborn richtete sich auf und inspizierte mit angewidertem Gesicht seine Beinkleider. Siralen ließ sich in den Sand fallen und zog die Knie an. „Wasser“, sagte sie. „Ich hoffe, sie denken daran, dass wir Wasser brauchen.“

      „Das hoffen wir alle“, jammerte der Barde. „Meine Hosen müssen unbedingt gewaschen werden.“

      „Nicht dafür, MacOsborn“, stöhnte Siralen. „Wir verdursten hier, wenn die Scorpios uns kein Wasser bringen.“

      Irwin sah sie hilflos an. „Aber ich kann doch nicht in diesen vollgesch….“

      „Verschont uns!“

      Die Hoffnungslosigkeit, die mit der ersten Meldung über die unbekannten Wesen, die den Stützpunkt am Strand angegriffen hatten, aufgekommen war, verdichtete sich mit jedem Moment, da sie hier waren. Als würde eine Weberin emsig die Fäden eines zu locker gewobenen Teppichs straffen. Zuerst der Verlust der vielen Männer im Hauptlager, dann die Meuterei der Landstreitkräfte unter dem Brigadier, der Tod des Brigadiers als Folge des Aufstandes, die zahllosen Toten und die Niederlage im Wüstenkessel. Darceans Schicksal durch Irwins Versagen. Und nun waren sie Gefangene im Lager der undiplomatischsten Wesen, die Siralen je zu Gesicht bekommen hatte, wenn man von den Fischmenschen mal absah. Die Scorpios erschienen ihr wir die Verkörperung des Knöchernen, des Wort- und Verständnislosen. Damit hatte eine Diplomatin hier nichts zu sagen. Und Siralen war sehr bewusst, dass ihr die Diplomatie immer mehr zu eigen wurde, während ihr der Kampfgeist, den sie irgendwann vielleicht gehabt hatte, zusehends verloren ging. Was also konnte sie hier tun, abgesehen davon, auf den Tod zu warten? Aber wenn sie schon sterben musste, wollte sie es auf keinen Fall, ohne noch ein letztes Mal Tauron gesehen zu haben. Ihn noch ein letztes Mal berühren, spüren, seine Stimme hören, in seine Augen sehen … Sie musste zurück auf die Meerjungfrau! Allein dafür lohnte es sich, stark zu bleiben und ums Überleben zu kämpfen.

      „Sie halten sich für mächtiger als alles, was wir sind oder bei uns in Amalea haben, mal abgesehen von den MacDragul. Die können mit ihnen mithalten, wie wir gesehen haben“, schnitt sich Charas Stimme in ihre Gedanken. „Sie halten uns für einen schwachen Abklatsch der Thanatanen. Sie halten die Thanatanen wiederum für mächtig genug, um sich mit ihrem Volk näher zu befassen.“

      „Ja, Chara“, seufzte Siralen. „Sie legen Wert auf Stärke. Und sie halten sich selbst für etwas Besseres.“

      „Sie erwägen nur die Gefahr, die von jemandem wie uns für jemanden wie sie ausgeht. Sie halten sich deshalb noch nicht für etwas Besseres.“ Chara grinste. „Die Elfen halten sich für etwas Besseres.“

      Irgendwie war Siralen nicht zum Lachen zumute.

      „Tat ich nie.“

      „Nicht?“ Die Assassinin setzte sich ihr gegenüber. In einem gut berechneten Abstand, wohlgemerkt.

      „Dein Volk jedenfalls nimmt sich gerne raus. Da hilft ihm die Tatsache, dass seine Rasse im Verhältnis zu den Menschen vernichtend klein ist. Aber du, als einzelne Elfe, bist nur eine von Vielen.“

      „Und damit bin ich zufrieden. Ich war nie daran interessiert, eine Sonderstellung einzunehmen.“

      „Wieso wurdest du dann zur Kommandantin einer Elfeneinheit, schließlich zur Kommandantin einer ganzen Streitmacht und jetzt zur Kommandantin der Landstreitkräfte?“

      „Was ist mit dir Chara, Flottenoberkommandantin?“

      „Ich habe nie um das Flottenoberkommando gebeten.“

      „Habe ich denn um das Kommando über die Landstreitkräfte gebeten?“

      „Nein, aber du hast dich lange vorher dafür ins Zeug gelegt, eine Befehlshaberin der Streitkräfte Albions zu werden. Du versuchst, irgendjemandem etwas zu beweisen.“

      „So wie du.“

      Chara schloss einen nichtigen Moment die Augen. „Ich wäre lieber unsichtbar geblieben.“

      „Worüber reden wir hier, Chara?“

      „Wovor hast du Angst, Siralen? Wieso legst du so viel Wert darauf, was ein Brigadier oder ein bestimmter Elf von dir hält? Wieso fürchtest du jeden, der eine Position einnimmt, die es ihm erlaubt, über dich zu urteilen?“

      Siralen presste die Lippen aufeinander. Sie konnte Chara nicht erzählen, was es mit ihrem Vater auf sich hatte. Wüsste sie davon … sie würde es trotzdem nicht verstehen. Chara hatte keine Eltern. Sie war nicht der Spross eines Vorfahren, der in den Augen aller Nachkommen versagt hatte. Sie würde nicht verstehen, wieso jemand Angst davor hatte, zu versagen, sein Volk zu verraten. Oder einfach nur davor, schwach zu sein.

      „Hast du denn einen Rat für mich, Chara?“, fragte sie, statt eine Antwort zu geben.

      „Nein.“

      „Du hast einen Rat, nicht wahr?“

      Chara zuckte mit den Schultern. „Wenn du keine Angst davor hast zu scheitern, wirst du leisten, anstatt zu zögern. Du wirst aufrecht gehen und kämpfen. Dann wird man dich respektieren.“

      „Wie einfach das klingt.“ Die Ironie in ihrer Stimme war selbst für Siralen vernehmbar.

      „Vielleicht wäre es an der Zeit aufzugeben, sich ein anderes Ziel zu setzen …“, murmelte Siralen und blickte auf die Wüste jenseits des Zelteingangs. „… die Idee von der kompetenten Kommandantin der Landstreitkräfte fallen zu lassen. Vielleicht wäre es besser, etwas anderes zu tun.“

      „Ja, vielleicht“, erwiderte Chara. „Vielleicht redest du lieber, als zu kämpfen.“

      Wenn sie Chara nicht besser gekannt hätte, hätte sie die Aussage als Beleidigung aufgefasst. Chara hatte aber nicht beabsichtigt,


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