Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende. J. H. Praßl

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl


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… Der Elf, der ihm, Irwin MacOsborn, nicht den ihm gebührenden Respekt entgegenbrachte, setzte sich stöhnend auf und tastete nach seinem Kopf. Noch während er damit beschäftigt war, zu begreifen, dass die Situation, in der er sich befand, einiges zu wünschen übrigließ, donnerte der Wilde, der ihn zu Boden geschlagen hatte, mit der Faust gegen Charas Kajütentür.

      „Zweiauge!“, knurrte er.

      „Kann rein!“, drang Charas Stimme nach draußen.

      „Ga!“, bekam sie als Antwort. Und dann folgte irgendein unverständlicher Wortschwall.

      Die Tür flog auf, und Chara erschien auf der Bildfläche. Irwin schluckte und fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Na klar tat sie das, immerhin trug die Flok nur ein schwarzes Tuch um die Hüften und ein Unterhemd, durch das man ihre prallen Brüste mehr als nur erahnen konnte. Das Blut wich aus seinem Kopf in tiefere Regionen. Und wäre es nicht die Flok gewesen, und wäre die Situation nicht dermaßen unpassend gewesen, und wäre er nicht einigermaßen verwirrt angesichts des gerade in Erscheinung getretenen Elfen auf dem Boden, er hätte einen richtig guten Spruch losgelassen. Und so die Flok davon überzeugt, ihm ihre Früchte darzubieten. Leider blieb ihm der im Halse stecken, als Chara irgendwo einen Dolch hervorzauberte und vor Darcean in die Hocke ging. Sie würde doch nicht … Nein, das würde sie nicht.

      Die Klingenspitze wanderte zu Darceans Hals, wo sie wie eine Ballerina eine Pirouette drehte und zum Stillstand kam.

      „Na, sieh mal einer an. Siralens Berater schleicht vor meiner Tür herum und macht sich dafür auch noch unsichtbar. Was soll ich denn davon halten?“

      Darcean antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte es ihm ebenfalls die Sprache verschlagen.

      „Od!“, knurrte der Leibwächter und nickte in Richtung eines hellen Flecks, der sich auf der Türschwelle abzeichnete. Chara griff danach, ohne den Dolch zurückzuziehen. Sie faltete das Pergamentstück mit Zeigefinger und Daumen auseinander und las.

      „Ist das eine Nachricht von deinen neuen Verbündeten?“, fragte Darcean, und Zorn schwang in seiner sonst so nüchternen Stimme mit.

      Chara verzog keine Miene. „Das wird sich zeigen.“ Die Antwort war seltsam, wenn man bedachte, dass sie es eigentlich wissen müsste. Es sei denn der Verfasser blieb anonym. Auch denkbar. Hier auf der Meerjungfrau passierte alles Mögliche, mit dem keiner rechnete. Das hatte Irwin in der kurzen Zeit, die er nun auf dem Kommandoschiff war, gelernt.

      „Was dachtest du denn, vor meiner Kajüte zu finden?“, wandte sie sich wieder dem Elfen zu.

      „Etwas in der Art, wie du es gerade in Händen hältst, möglicherweise. Vielleicht wollte ich auch nur ein klein wenig spionieren. Immerhin scheinst du öfter Mal Besuch zu bekommen, den du penibel vor uns geheim hältst.“

      „Das Spionieren ist nicht dein Ding, Darcean. Lass es lieber.“

      Chara zog das Messer zurück und ließ es unter ihrem Hüfttuch verschwinden, wo sich, allem Anschein nach, ein Halfter befand. Auch wenn Irwin sich fragte, wo genau dieses sitzen sollte.

      „Waka ki!“, befahl sie und stand auf. „Lassen wir ihn gehen.“

      Unerwartet gewandt kam Darcean auf die Beine. „Du riskierst das Vertrauen jener Leute, auf deren Hilfe du angewiesen bist, Chara“, sagte er und zupfte sich seine graue Tunika gerade. „Du solltest mit offenen Karten spielen. Siralen hält viel von dir. Sie will sich nicht gegen dich stellen müssen.“

      „Dann soll sie es bleiben lassen“, kam es schnörkellos zurück. „Ich habe euch Zeit gegeben, über meinen Vorschlag nachzudenken. Danach tue ich, was ich für richtig halte, und ihr tut, was ihr für richtig haltet.“ Damit wandte sie sich ab und verschwand in ihrer Kajüte.

      Ein leises Knurren erklang, als einer der beiden Goygoa erneut seine Stabkeule hob. War wahrscheinlich seine Art, dem Elfen zu sagen, dass das Gespräch zu Ende war.

      Irwin kicherte leise, obwohl es im Grunde nichts zu kichern gab. Aber naja … der Elf, der ihn behandelte wie einen Anfänger, war gerade ganz schön aufgeflogen. Nicht, dass er es ihm gönnte. Aber jetzt, da die Gefahr gebannt war, fühlte Irwin sich besser als noch vor ein paar Augenblicken. Er war nicht länger in vertrackten Gedanken gefangen, und das fühlte sich richtiggehend befreiend an. Jetzt hatte Chara zumindest einen Hinweis darauf, dass Siralen und Darcean ihr eigenes Süppchen kochten. Und damit war er selbst fein raus.

      Dann konnte er sich jetzt ja getrost der Frage widmen, wo genau die Flok den Hüftgurt für ihren Dolch unter ihrem schwarzen Röckchen trug.

      „Du möchtest also eine Nacht mit mir verbringen.“ Charas linker Mundwinkel ging nach oben, als sie das Hauptdeck betrat, und dort, im Schatten des Hauptmasts, genau jener Person begegnete, mit der sie gerechnet hatte. „Das hättest du einfacher haben können, Siralen.“ Sie trat auf die Elfe zu, streckte die Hand aus und hielt ihr das Pergamentstück vor die Nase.

      Siralen atmete aus, und ihre Schultern sackten nach unten. Sie wirkte müde, müder noch als nach der Schlacht gegen die Scorpios. Antwort hatte sie auch keine parat.

      „Du dachtest wohl, du appellierst einfach mal an meine Eitelkeit. Dabei solltest du wissen, dass die eines der wenigen Laster ist, die man mir nicht anrechnen kann.“

      Als Siralen immer noch nichts sagte, schnippte Chara das Pergamentröllchen über die Reling. „Ich liefere Euch weitere Verräter, wenn Ihr im Gegenzug eine Nacht mit mir verbringt. Wenn Ihr interessiert seid, trefft mich bei Sonnenuntergang am Achterdeck …“ Chara nickte langsam. „Knapp und direkt, und damit gar nicht mal so schlecht. Blöd nur, dass mein Kontaktmann erstens keinerlei Interesse an ein bisschen Mit-Mir-Rummachen hätte – der hat andere Sorgen – und dass er zweitens die persönliche Anrede vorzieht. Deine Idee?“

      „Der Text kam von mir.“

      „Und Darcean?“

      „Wollte dir die Nachricht heimlich zukommen lassen, wie du gewiss bereits weißt.“

      „Stimmt. Und wieso das Ganze?“

      Siralen strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht, wandte sich ab und trat an die Reling. „Ach, Chara …“, flüsterte sie. „Die Dinge entgleiten uns. Siehst du das denn nicht? Du denkst, wir hätten keinen Ausweg, und müssten mit Chaosanhängern zusammenarbeiten. Und das Furchtbare daran ist, dass du das nicht nur denkst, du bist auch bereit, es über die Köpfe derjenigen hinweg durchzusetzen, die auf dich zählen und auf die du zählen kannst. Und du musst auf uns zählen, wenn du diese Mission zum Erfolg führen möchtest.“

      Sie drehte sich wieder zu ihr um und sah ihr in die Augen. „Wir mussten versuchen, dir deinen Vertrauensbruch und die Konsequenzen desselben vor Augen zu führen …“

      „Was hättet ihr denn getan, wenn ich von deiner Anwesenheit hier oben überrascht gewesen wäre?“, unterbrach Chara Siralens Sermon.

      Siralen zuckte mit den Schultern. „Nun, zunächst wäre es ein Hinweis darauf, dass du mit jemand anderem gerechnet hattest, nämlich einem Dragatisten. Was wiederum ein Beweis dafür gewesen wäre, dass du genauso weitermachst, wie du es für richtig hältst, egal, was Darcean und ich davon halten. Kurz, dein vermeintliches Angebot, wir könnten uns entscheiden und mitbestimmen, ist vielmehr ein Ultimatum. Entweder seid ihr für mich, oder ich ziehe die Sache alleine durch. Das ist es, was du tatsächlich gemeint hast. Was im Übrigen typisch für dich ist. Du hattest nie vor, unserer Stimme irgendein Gewicht beizumessen. Du tust, was immer du tun willst.“

      „Weil ich weiß, was diese Mission braucht.“ Chara trat neben Siralen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling. „Und hier hast du also darauf gewartet, dass ich in eure Falle tappe. Gehofft, dass ich auf’s Achterdeck komme, um meinen vermeintlichen Kontaktmann zu treffen.“

      „Ich will, dass du begreifst …“

      „Du wirst mir genauso wenig etwas begreiflich machen wie Thorn, Telos, Lucretia … Ich weiß, was ich tue, auch wenn alle denken, ich wüsste es nicht. Und mein Angebot steht. Entweder


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