Hybridtheater. Thomas Oberender

Hybridtheater - Thomas Oberender


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anderen Worldbuildings aufgehen. Diese neuen Theaterformen sind weniger literaturbasiert, auch wenn sie raffinierter geskriptet sind. Die neue Rolle des Skripts, das die Begegnung zwischen den Besucher*innen und dem Werk partizipativer und symbiotischer gestaltet, korrespondiert mit den Herausforderungen, vor denen unsere hochgradig vernetzte Kultur insgesamt steht: „Gesucht sind Ordnungen“, schreiben Ruedi Widmer und Ines Kleesattel in ihrem Reader Scripted Culture, „in denen sich Vorstellungen der Gleichverteilung von Macht („distributed“, „dezentral“) mit Vorstellungen des freien Fließens von Daten und Informationen sowie solchen des Schutzes vor Manipulation („Blockchain“) verbinden. Die in der realen Digitalisierung, Globalisierung und Ökonomisierung liegenden Formen der Durchdringung und Entgrenzung werden als Probleme gesehen, denen man, wenn überhaupt, durch die Verbesserung dessen, was bei Galloway Protokoll heißt, beikommt.“1

      Diese Protokolle bewirken und managen zum Beispiel die strukturelle Verflüssigung und Molekularisierung der Öffentlichkeit oder steuern im Hybridtheater den Chat und die Abläufe und Zugänge in einem virtuellen Theaterraum. In der künstlerischen Produktion erlauben sie das Entstehen von symbotischen, partizipativen Welten, die inklusiv sind und in Echtzeit die verschiedensten Akteur*innen und Technologien verbinden und im eigentlichen Sinne nur noch Akteur*innen unterschiedlichen Grades kennen. Hier ist jeder und jede mittendrin, aber viele Elemente der technologischen Struktur sind interaktiv und mit verschiedenen Programmen vernetzt. Ein Wesenszug dieser neuen Theaterformen ist eine transhumane Vision, die das Funktionieren der symbiotischen Systeme schildert – und nicht des Menschen. In ihnen trifft die Zeitlosigkeit der digitalen Medien, in denen alles präsent bleibt, auf die Augenblicklichkeit des Geschehens und inszeniert diese Begegnung. Während die Programme der linearen Medien kuratiert sind und in der Zeit vergehen, liegen, so der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, die digitalen Angebote zeitlos wie Minen im Raum und warten auf ihre Begegnung mit dem Publikum. Und so verhält es sich auch mit den digitalen Theaterwelten – selbst da, wo sie analog inszeniert sind, aktivieren sie ihre Inhalte erst durch die aktiven Gesten des Publikums. Jede Aufführung in den Narrative Spaces von Mona El Gammal beruht auf diesem Skript verborgener Optionen, die von den Besucher*innen im analogen Raum ausgelöst werden.

      In den kommenden Jahrzehnten können im digitalen Raum Schauspieler*innen, die gestorben sind, wieder erscheinen und nun neue Rollen spielen – sie können Texte sprechen, die sie nie gesagt haben, und das in jeder Sprache und in jeder physischen Gestalt. Wie in dem Science-Fiction-Film The Congress von Ari Folman, in dem die Schauspielerin Robin Wright in den besten Jahren ihrer Karriere dazu gezwungen ist, die Rechte über ihre Erscheinung an einen Medienkonzern abzutreten, der sie fortan in einer digital animierten Produktionswelt noch zu ihren Lebzeiten weiterarbeiten lässt – ohne dass sie jemals wieder vor einer Kamera stehen muss. Die Frage danach, wer spricht, wird sich anders beantworten, genauso wie die nach dem Was und dem Wo. Bereits heute ist es unklar und oft unwichtig, wer auf Imageboards wie 4chan mit seinen anonymen Posts ohne Login und Registrierung spricht.

      Diese Kennzeichen der Digitalkultur prägen nun digitale Theaterformen, die analog realisiert werden, hybrid oder rein virtuell. Virtuelles Theater ist es vollumfänglich dann, wenn Publikum und Performer*innen in Echtzeit im gleichen digitalen Raum sind. Mit den alten Technologien war dies bislang unerschwinglich – die Weiterentwicklung von Rechnern und Software hat das verändert. Auch das mit dieser Entwicklung verbundene operative Know-how nimmt auf Seiten der Künstler*innen und Institutionen beständig zu. Parallel zu diesem rein virtuellen Theater entstehen im freien und institutionalisierten Theater weit häufiger hybride Formate. Sie beruhen auf unterschiedlichen technischen Zugängen und besitzen unterschiedliche Gewichtungen zwischen dem rein Virtuellen und dem physisch Präsenten.

      Hybride Theaterformen finden zeitgleich online und offline statt. Sie entwickeln für das Publikum im Saal und online nicht nur simultan unterschiedliche Beteiligungsformen, sondern auch unterschiedliche Modi der körperlichen Präsenz und Verhaltensweisen. Dennoch spielt der physisch präsente Körper in ihnen eine besondere Rolle und verankert das Geschehen. Denkbar ist, dass vollumfänglich virtuelle Theaterformen in Zukunft nicht mehr komplett und ausschließlich von Menschen generiert werden und sich daher mit Fragen nach einem Theater ohne Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Text verbinden. Was passiert, wenn all das von der KI kommt? Wer „macht“ das dann? Diese Fragen werden in den hybriden Theaterproduktionen von Arne Vogelgesang bereits sichtbar.

      Empirie im digitalen Empire

      In den Videodokumenten seiner Recherchen, die er in seinen Lectures und Aufführungen zeigt, werden digitale Protogesellschaften sichtbar, die wie ein virtuelles „Ausland“ erscheinen – sie spielen mit unbekannten Formen der Selbstinszenierung, der Fiktionalisierung unserer analogen und biologischen Welt „draußen“ und der wirklichen Emotionalität der sozialen Plattformen.

      Vor seinem Regiestudium am Max Reinhardt Seminar in Wien hat Arne Vogelgesang sechs Semester Ethnologie studiert. In seiner Arbeit reist er feldforschend in andere gesellschaftliche Welten, die digital sind, und bringt Theaterformen zurück und auf die Bühne, von denen Menschen wie ich, die wenig Zeit in diesen Foren verbringen, gar nicht wussten, dass sie überhaupt existieren. Mit ethnologischem, aber auch künstlerischem, mustererkennendem Blick studiert er die Sprachen und Codes, die sich in den Online-Gesellschaften herausgebildet haben, und schleust sie zurück in den politischen Diskurs des Theaters. Warum geht Vogelgesang auf diese Online-Recherchen? Warum verbringt er Monate und vielleicht Jahre seines Lebens in diesen Foren? Warum bereist und erforscht er die digitalen Plattformen wie ein Ethnologe und analysiert und übersetzt deren eigene Sprache und Theaterrealität für jene, die keine Insider*innen dieser Szenen sind? Es kann nicht nur der Ethnologe dort fündig werden, sondern es muss auch der Künstler sein – mit seinem, wie Vogelgesang über sich sagt, Interesse an Spielarten der


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