Drecksarbeit. Jan Stremmel

Drecksarbeit - Jan Stremmel


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keine Sorge, das Wasser ist nicht giftig.« Zu diesem Zeitpunkt brannte mein rechter Fuß schon intensiv, und ich konnte mir nach meinem Würgeanfall lebhaft vorstellen, was passieren würde, wenn Slumbewohner flussabwärts darin badeten oder ihren Reis damit kochten. Es war offensichtlich eine riesige Sauerei.

      Gleichzeitig hätte ich es anmaßend gefunden, Uttam einen Vorwurf zu machen. Er folgte den Anweisungen, die ihm der Chef der Fabrik gegeben hatte. Das Grundwasser von Kalkutta ist massiv mit Giftstoffen aus der Industrie belastet. Für den Staat sind eine Million toter Fische akzeptabler als eine Million gefährdeter Arbeitsplätze.

       ALS IN BANGLADESCH NACH DUTZENDEN BRÄNDEN IN NÄHEREIEN DIE STANDARDS FÜR ARBEITSSCHUTZ ZUMINDEST EIN BISSCHEN STIEGEN, UND DAMIT AUCH DIE KOSTEN, ZOGEN VIELE MODEKONZERNE IHRE AUFTRÄGE SCHON WIEDER AB.

      Aber letztlich liegt die Verantwortung natürlich bei den Auftraggebern aus Übersee. Bei den Konzernen, deren Einkäufer in der Limousine anreisen und dunkelblaue Baumwolle so billig wie möglich bestellen – weil sie so selbst dann noch eine gute Marge kassieren können, wenn sie T-Shirts für vier Euro verkaufen. Sie müssen wissen, dass ein kleiner indischer Lieferant diesen Preis nur bieten kann, wenn er beim Umwelt- und Arbeitsschutz spart.

      Es ist das klassische Lieferkettenproblem. Je mehr Stationen eine Ware durchläuft, bis sie beim Auftraggeber in Europa ankommt, desto wahrscheinlicher werden auf dem Weg Mensch und Umwelt ausgebeutet. Während ich in Indien in der Fabrikhöhle stand, diskutierte die deutsche Bundesregierung über die Einführung eines Gesetzes, das dem ein Ende bereiten würde. Bislang können Firmen die Verantwortung einfach auf die Subunternehmer schieben. Nach dem Motto: »Kinderarbeit auf der Kakaoplantage? Schlimm, aber nicht unsere Schuld. Wir wussten von nichts.« Das sogenannte Lieferkettengesetz würde große Unternehmen für die Zustände entlang aller Stationen haftbar machen.

       FÜR EINE NÄHERIN BETRÄGT DER GESETZLICHE MINDESTLOHN IN ÄTHIOPIEN 21 US-DOLLAR IM MONAT. ETWA EIN DRITTEL VON DEM IN BANGLADESCH.

      Wir fanden nie heraus, für welchen Kunden wir an diesem Tag Baumwolle gefärbt hatten. Der Fabrikchef ließ uns natürlich nicht in seine Bücher gucken. Und anders als bei fertigen Kleidungsstücken sieht man bei Stoffballen noch nicht, welches Etikett am Ende eingenäht wird. Wir erfuhren nur, dass die Näherei daraus Unterhosen für einen europäischen Discounter herstellen würde.

      Hinter der Idee des Lieferkettengesetzes steht eine bittere Erfahrung. Im globalen Süden endet die Ausbeutung oft erst, sobald ausländische Kunden Regeln vorgeben. Die deprimierende Wahrheit ist: Für Regierungen und Unternehmer in Entwicklungsländern sind Hungerlöhne und fehlender Umweltschutz Standortvorteile. Wer den niedrigsten Preis bietet, bekommt den Auftrag. Als in Bangladesch nach Dutzenden Bränden in Nähereien die Standards für Arbeitsschutz zumindest ein bisschen stiegen, und damit auch die Kosten, zogen viele Modekonzerne ihre Aufträge schon wieder ab. H&M, Levi’s, Calzedonia, Calvin Klein, Tommy Hilfiger, Tchibo, Aldi und Lidl lassen ihre Kleidungsstücke inzwischen in Äthiopien herstellen. Der gesetzliche Mindestlohn für eine Näherin beträgt dort 21 US-Dollar im Monat. Etwa ein Drittel von dem in Bangladesch. Was natürlich nur zum Leben reicht, wenn man zu fünft in einer Lehmhütte haust und keine Familie ernähren muss.

      Das ist das Problem des unregulierten Arbeitsmarkts: Sobald nur Angebot und Nachfrage die Löhne bestimmen, findet sich bei acht Milliarden Menschen immer jemand, der den Job für noch weniger Geld macht. Ausbeutung ist die Folge. Und die Konsequenzen tragen jene, die sich am wenigsten wehren können: die Ärmsten der Armen. Und die Natur.

      Das Lieferkettengesetz soll das umdrehen. Die Idee ist: Wenn Konzerne haftbar sind für alles, was auf der langen Reise ihrer Produkte passiert, fordern sie von ihren Lieferanten auch mit Nachdruck bestimmte Standards ein. Dann wird Arbeits- und Umweltschutz zum Standortvorteil. Es gewinnt nicht mehr derjenige den Auftrag, der das meiste aus seinen Arbeitern herauspresst, sondern der, der den Kunden garantieren kann, dass bei ihm keine Kinder schuften und kein Gift im Fluss landet. Viele deutsche Unternehmen sind für das Gesetz. Denn Firmen, die jetzt schon verantwortungsvoll arbeiten, haben dann endlich keinen Nachteil mehr.

      Das Thema beschäftigt immer mehr Industriestaaten. In Frankreich und den Niederlanden gibt es schon länger solche Gesetze, in Österreich wird es diskutiert, in der Schweiz scheiterte im November 2020 ein Volksentscheid knapp, der eine besonders strenge Regelung einführen wollte. Die deutsche Bundesregierung hat sich Anfang 2021 auf ein Lieferkettengesetz geeinigt, nachdem eine Umfrage ergeben hatte, dass nur ein sehr kleiner Teil der deutschen Unternehmen seine Zulieferer freiwillig kontrolliert. Allerdings kritisieren Menschenrechts- und Umweltorganisationen den Entwurf als ungenügend. Auf Druck des CDU-geführten Wirtschaftsministeriums greift es zunächst nur für Unternehmen mit mehr als dreitausend Mitarbeitern, klammert also kleine Unternehmen und den sogenannten Mittelstand aus – in dem immer noch die Mehrheit der Menschen beschäftigt ist. Und es umfasst keine zivilrechtliche Haftung. Oxfam zufolge »droht das Gesetz ins Leere zu laufen«.

      An der Treppe zur Kantine drückte mir Uttam eine Flasche in die Hand. Waschbenzin. Er rieb damit seine Hände ab und wischte sie an seinem Shirt trocken. Meine Arme waren fast bis zum Ellbogen blau verspritzt. Das Benzin verwässerte immerhin den Farbton auf meinen Händen zu einem hellen Grau. Dafür rochen sie jetzt, als gehörten sie einem Tankwart. Wir aßen mit den Händen.

      Über die Jahre habe ich als Reporter die Beobachtung gemacht, dass die Menschen, egal wo auf der Welt und unter welchen Bedingungen sie auch arbeiten, das Mittagessen doch meist in überraschend ähnlicher Weise einnehmen. Von der Blumenfarm in Kenia bis zur Spielzeugmanufaktur in China sind fast alle Kantinen der Welt gekachelte Räume mit schlichten Tischen, an denen einfaches Essen auf Teller geklatscht und in Ruhe gegessen wird. Vorher und nachher kann der Job noch so anstrengend, gefährlich oder unhygienisch sein – das Essen ist eine Ruhephase.

      Bei den Färbern in Kalkutta war das anders. Fand ich schon die Fabrik gruselig, war die Kantine die nächste Stufe des Horrors. Im Grunde ist schon der Begriff irreführend. »Essloch« wäre treffender. Es handelte sich um eine Art Hohlraum zwischen der Halle und dem darüberliegenden Stockwerk. Er hatte eine Deckenhöhe von knapp anderthalb Metern. Darin lagerten blaue Kunststofffässer mit giftigen Chemikalien. In diesen Hohlraum krabbelten die Färber jetzt nacheinander hinein, setzten sich im Schneidersitz auf den nackten Beton, nahmen sich schmuddelige Plastikschälchen und schaufelten Reis und gelbes Hühnchencurry aus zwei Töpfen, die jemand dort hingestellt hatte – dann aßen sie stumm mit der rechten, meist blau gefärbten Hand.

      Seit dreiundzwanzig Jahren arbeitete Uttam als Färber, erzählte er mir beim Essen. Das bedeutete, dass er mit ungefähr zwölf Jahren angefangen hatte. Er kam aus Bangladesch; seine Frau lebte mit den drei Kindern dort in einem Dorf. Ihnen schickte er den Großteil seines Lohns. Alle drei Monate besuchte er sie. Für eine Woche. »Ich bin sehr zufrieden mit meiner Arbeit«, sagte er.

      Ich hatte während der Anreise ein paar Statistiken gelesen. Demnach kauft jeder Deutsche im Schnitt sechzig Klamotten im Jahr; so viele wie noch nie. Wir besitzen jeder durchschnittlich zweiundneunzig Kleidungsstücke – Socken und Unterwäsche nicht mitgezählt. Knapp die Hälfte davon tragen wir fast nie. Insgesamt zwei Milliarden Klamotten lagern nutzlos in deutschen Schränken. Ein T-Shirt tragen wir heute im Schnitt kaum öfter als die Plastiktüte, in der wir es aus dem Laden mitgenommen haben.

      Das ist der Erfolg der Fast Fashion; einer der genialsten Erfindungen der letzten Jahrzehnte, wirtschaftlich gesehen. Konzerne wie H&M haben die Menschen in den Industrieländern seit den Neunzigern mit immer billigerer, immer schneller wechselnder Mode angefüttert. H&M oder Zara bringen heute knapp fünfzig Kollektionen im Jahr heraus. Für ein T-Shirt muss man kaum mehr zahlen als für einen Cappuccino. Toll für die Kunden.

      Und noch toller für die Konzerne. Der Absatz von Klamotten hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren weltweit verdoppelt – auf knapp zwei Billionen Dollar pro Jahr (das sind kaum zu begreifende zweitausend Milliarden). Amancio Ortega, der Gründer von Zara, ist der sechstreichste Mensch der Erde.

      Toll ist die Entwicklung auch für die Lieferanten: Sie stellen heute mehr als doppelt so viele Kleidungsstücke her wie vor zwanzig Jahren; nämlich mehr als hundert


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