Das Dorf des Willkommens. Mimmo Lucano

Das Dorf des Willkommens - Mimmo Lucano


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zur Rechenschaft gezogen werden. Der Prozess dauerte elf Jahre, doch trotz unzähliger Aussagen von »Pentiti«,20 die auch von einer Unterwanderung lokaler Genossenschaften durch die ’Ndrangheta berichteten, trotz aller verschwundenen Aktenordner und trotz aller Unterbrechungen und Neuaufnahmen des Prozesses kam es letztendlich zu keiner Verurteilung. Dabei gab es einen nur allzu begründeten Verdacht gegen die ’Ndrine Pesce und Piromalli, die zu den mächtigsten ’Ndrangheta-Clans überhaupt gehören.

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      Natale Bianchi ist noch heute vielen bekannt als mutiger und rebellischer Priester, der sich beherzt gegen die ’Ndrangheta gestellt hat. Er hatte die Kraft, die Kirche herauszufordern, oder jedenfalls den Teil davon, der nur auf sich selbst und seine Hierarchien zurückgeworfen ist, der beharrlich die Augen schließt, statt Position zu beziehen, wo dies nötig ist. Er war immer unbequem, und so war es nicht verwunderlich, dass man ihn 1975 aufforderte, seine Pfarrei San Rocco in Gioiosa Jonica aufzugeben. Er hat sich lange widersetzt und wurde dabei von vielen Gemeindemitgliedern unterstützt, die sogar die Kirche besetzt hielten, bis sie von den Carabinieri gezwungen wurden, sie zu verlassen. Hinzu kam, dass er keinen Hehl aus seiner Unterstützung des Referendums für das Recht auf Scheidung machte, was letztendlich zu seiner Suspension a divinis führte, die im Kirchenrecht Kleriker aus dem aktiven Priesterdienst ausschließt. Ich persönlich glaube, dass bei der Entscheidung, einen so bekannten Repräsentanten des Ideals der sozialen Gerechtigkeit aus dem Kirchendienst zu verbannen, auch Don Stilo seine Finger im Spiel hatte. Natale selbst erinnert sich noch gut, wie Stilo ihn sich eines Tages zur Brust nahm und ihm ins Gesicht schrie: »Du weißt nicht, wer ich bin, selbst die Steine hier kennen mich. Du bist für mich wie ein Ameise, und wie eine Ameise kann ich dich zerquetschen.«

      Natale hat sich nicht einschüchtern lassen, nicht einmal durch die Suspendierung. Er fährt zwar manchmal in seine Heimat Varese in den Norden, um dort seine Familie zu besuchen, doch ist er trotz allem in der Locride geblieben. Seit Jahrzehnten lässt er sich seinen Glauben an diese Region nicht nehmen, indem er sich etwa auch für Genossenschaften einsetzt, die eine echte Alternative zur Ausbeutung durch die ’Ndrangheta und die mit ihr verbundenen Unternehmen darstellen. Für viele von uns bleibt er bis heute Ansporn und Inspiration.

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      Doch Natale Bianchi ist nicht der einzige Priester, der uns geholfen hat, das Projekt Riace voranzubringen. Da ist zum Beispiel auch Giancarlo Maria Bregantini, der von 1994 bis 2007 Bischof von Locri war. Monsignor Bregantini war es auch, der zum ersten Mal von einem »Modell Riace« gesprochen hat, und ohne ihn hätte die Welt dieses Modell vielleicht nie kennengelernt. Als er sein Amt damals antrat, befand sich die Region in einer tiefen Identitätskrise, denn seit langer Zeit schon war die Politik nicht in der Lage gewesen, Antworten für ihre vielen Probleme zu finden. Die Alten waren längst in Resignation verfallen, und die Jungen verließen so bald wie möglich ihre Heimat, um die dortigen prekären Verhältnisse hinter sich zu lassen und sich irgendwo anders eine Zukunft aufzubauen.

      Wie Pater Bianchi kam auch Bregantini aus dem Norden in die Locride, er stammte aus dem Nonstal in der Provinz Trentino. Um seine Beziehung zu Kalabrien zu erklären, erzählt er oft eine Anekdote, die seiner Ansicht nach die kalabrische Seele auf den Punkt bringt. Er war gerade in Rom zum Bischof ernannt worden und befand sich auf der Rückfahrt in den Süden, auf einer dieser endlos anmutenden Zugreisen, die meine Landsleute und ich so gut kennen. Ihm gegenüber saß ein älteres Ehepaar, das sich zur Mittagszeit daran machte, das Tischchen zwischen ihnen auszuklappen und es dann liebevoll zu decken, samt Tischdecke, Servietten und Plastiktellern.

      »Ich hatte nichts zu essen bei mir«, erzählt Bregantini, »und ich wurde natürlich hungrig, als mir der Duft der ausgepackten Panini in die Nase stieg. Da zog die Frau kurzerhand ein weiteres Sandwich aus der Tasche und bot es mir an: ›Das ist für Euch. Wir sind Kalabresen, und die Gastfreundschaft ist uns heilig.‹«

      So hat Monsignor Bregantini Kalabrien lieb gewonnen, auch wenn ihm in all den Jahren seines Lebens hier auch seine dunkelsten und deprimierendsten Seiten nicht verborgen blieben. Zeitlebens hat er entschlossen gegen die ’Ndrangheta gekämpft und ist in seinem Auftreten immer bescheiden geblieben. Ich erinnere mich noch gut, wie er sich in seiner Zeit als Bischof, ohne irgendeinen Personenschutz und mit einem gebrauchten alten Golf als Wagen, unverdrossen durch die Locride bewegte, und wie er oft an der Straße anhielt, um einen Plausch mit den Leuten zu halten oder mit den Kindern Ball zu spielen.

      Als damals die allerersten Flüchtlinge nach Riace kamen, die Kurden, die am 1. Juli 1998 »vom Wind gebracht« wurden, war Bregantini Bischof von Locri und erklärte sich spontan bereit, den Menschen das Haus des Pilgers in Riace zur Verfügung zu stellen. Von Anfang an war er an unserer Seite und hat uns tatkräftig unterstützt, obwohl er ein hoher kirchlicher Würdenträger war und meine Gefährten und ich von vielen Dorfbewohnern als »Extremisten« und »Umstürzler« betrachtet wurden.

      »Ich bin der Bischof«, sagte er schlicht, als wir uns damals zum ersten Mal begegneten, und ein spontanes Lächeln überzog sein Gesicht, als ich erwiderte: »Und ich bin ein ehemaliges Mitglied der Democrazia Proletaria.« Bald darauf lud er mich zu sich nach Hause ein, wo sein »Gefolge« schon auf uns wartete, das nur aus seiner Mutter, einer schon sehr alten und äußerst streng wirkenden Dame, und Pater Tarcisio, einem 90-jährigen Priester, bestand. Die Mutter stand mir zunächst mit offensichtlichem Misstrauen gegenüber, auch weil ich wohl der Erste war, der die Ehre hatte, zum Mittagessen in ihr Haus eingeladen zu werden. »Was ist das denn für einer?«, fragte sie ihren Sohn skeptisch, und der Bischof erwiderte: »Das ist einer, der nicht in die Kirche kommt.« Auf ihre konsternierte Frage, warum er mich dann in sein Haus geholt hatte, erwiderte Bregantini: »Aber Mama, wir müssen diese Leute doch aufnehmen, es sind gerade die verlorenen Schafe, um die wir uns kümmern müssen.« Nach dem Essen schien die Signora jedenfalls versöhnt, denn sie schenkte mir zum Abschied einen Korb Äpfel aus dem Nonstal, mit dem Markenzeichen der Genossenschaft darauf, die der Bruder des Bischofs gegründet hatte.

      Bregantini, der wie Natale Bianchi der Befreiungstheologie nahestand und früher »Arbeiterpfarrer« in einer kirchlichen Basisgemeinde gewesen war, war sich unserer Unterschiede stets bewusst, aber noch mehr unserer Gemeinsamkeiten. Genau wie ich ist er der festen Überzeugung, dass man die Probleme unserer Region nur lösen kann, indem man dem Territorium seine Identität zurückgibt, und genau wie ich weiß er, dass das kulturelle Erbe der Magna Graecia21 in Kalabrien immer noch lebendig und die Gastfreundschaft ein hoher Wert ist, den es zu erhalten gilt. Er hatte zu jeder Zeit ein offenes Ohr für uns, ohne sich jemals aufzudrängen, und er teilte mit uns den Glauben an die Utopie einer besseren Gesellschaft. Und es gibt eine weitere Überzeugung, die uns beide verbindet: Immer wieder hat er die Meinung geäußert, dass die 1968er-Bewegung auch ein großer Evangelisierungprozess gewesen ist. Genau wie ich wird er nicht müde zu betonen, dass die Botschaft des Evangeliums und die sozialen Utopien der Linken viele Gemeinsamkeiten haben.

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      Es gibt auch in der Kirche schwarze Schafe, denen es nur um ihre eigene Macht und ihre persönlichen Interessen geht. Die Kirche Bregantinis aber ist eine der Solidarität und Brüderlichkeit. Und ein weiterer Priester muss hier Erwähnung finden, der diese Werte vermittelt: Pater Alex Zanotelli. Ich habe ihn über unsere gemeinsame Freundin Chiara Sasso 2008 bei der »Carovana del Cuore«22 kennengelernt, die damals auch in Riace vorbeigekommen ist. Heute noch muss ich lächeln, wenn ich daran denke, wie ich diesen Comboni-Missionar in seinem bunten Hemd zum ersten Mal gesehen habe. Er war gerade nach 20 Jahren aufopferungsvollen Engagements in Afrika nach Italien zurückgekehrt und kam mir entgegen mit den Worten: »Was ihr da macht, ist wunderschön. Fragt die Leute nie, woher sie kommen, denkt einfach, dass der Wind sie gebracht hat.« Heute lebt er mitten in Sanità, einem sehr ursprünglichen, aber auch problematischen Viertel Neapels, und kümmert sich dort um die Ärmsten der Armen. Ich schätze ihn dafür, dass er sich immer seine intellektuelle Freiheit bewahrt hat, seine besondere Fähigkeit zur Empathie und seine Nähe zum Schmerz der »Letzten«, so sehr, dass er sogar manchmal seinen Glauben auf die Probe stellt. In Kenia, erzählt


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