Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext. Sara Izzo

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext - Sara Izzo


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der die ‚symbolische Sinnwelt‘ bzw. das ‚Weltbild‘ einer Gesellschaft bildet.31

      Bourdieu hierarchisiert hier den expliziten und den impliziten Referenzhorizont einer Epoche.

      Die gemeinsame, im Interdependenzsystem des Feldes der Stellungnahmen manifeste und explizit fassbare Problematik einer Epoche unterliegt in Bourdieus Vorstellung einem konstanten Wandel, da sich der Raum der Stellungnahmen durch das Hinzutreten eines Akteurs modifiziert:

      Concrètement, cela signifie que […] son existence ‚pose, comme on dit, des problèmes‘ aux occupants des autres positions, que les thèses qu’il affirme deviennent un enjeu de luttes, qu’elles fournissent l’un des termes des grandes oppositions autour desquelles s’organise la lutte et qui servent à penser cette lutte.32

      Durch die strukturell angelegte Möglichkeit des Wandels existiert der Raum der Stellungnahmen selbst im Modus der Potentialität.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Bourdieu bei der Definition seines feldspezifischen Möglichkeitsraums als „univers des problèmes, des références, des repères intellectuels“33 an Foucaults diskursstrukturierendem Formations- und Verteilungsgesetz möglicher zur Wahl stehender Punkte („points de choix“34) orientiert, dabei jedoch Foucaults Konzept des Feldes der strategischen Möglichkeiten mit der diesem übergeordneten Vorstellung einer diskurs­ordnenden épistème vermischt. Die durch die Gesamtheit aller Stellungnahmen indizierten Konfliktbereiche eines Feldes determinieren die Zugehörigkeit zu einer Epoche, wobei sich das Feld der Stellungnahmen als netzartiger Korrelationsraum und Bezugssystem präsentiert. Wenn auch grundsätzlich vergleichbar mit Foucaults Vorstellung der Positivität von Aussagen innerhalb einer diskursiven Formation, wird bei Bourdieu allerdings nicht die Bedingung von Aussagen in Form eines historischen Apriori fokussiert, sondern vermittels der Aktivität und Dynamik der zugehörigen Akteure bzw. Autoren und deren feldspezifischer sowie gesellschaftlicher Positionierung. Kombiniert man das diskursanalytische Konzept Foucaults mit dem feldtheoretischen Bourdieus, kann man sagen, dass sich innerhalb des Feldes der Stellungnahmen diskursive Formationen eruieren lassen. Der sich dadurch konstituierende sowohl implizite als auch explizite Kommunikations- und Korrelationsraum determiniert die gemeinsame Zugehörigkeit der Akteure zu einer bestimmten Epoche. Die Stellungnahmen entfalten in ihrer Positivität eine Einheit durch die Zeit hindurch, welche mit Foucault als historisches Apriori bezeichnet werden kann. Obgleich sich die Gruppierung der Stellungnahmen bei beiden Theoretikern unterscheidet, soll in der nachfolgenden Analyse das Prinzip der feldspezifischen Eingrenzung und der diskursiven Formation miteinander verflochten werden. Berücksichtigt werden muss dabei die unterschiedliche Auffassung der Möglichkeitsdynamiken bestimmter Aussagenpositionen im Korrelationssystem, die sich in der praktischen Anwendung jedoch als durchaus vereinbar erweisen. Denn während Foucault unabhängig von den durch Subjekte, Werke, Disziplinen, etc. gegebenen Einheiten aus einem Gesamtdiskurs entsprechend der Korrelation gemeinsamer Diskursgegenstände, -typen und -konzepte diskursive Formationen herausarbeitet, nimmt Bourdieu eine feldspezifische Eingrenzung von Stellungnahmen vor, die homolog zu den zugehörigen Akteuren deutbar wird. Der Raum der Möglichkeiten wird bei Bourdieu daher durch die einzelnen Akteure selbst erweitert und steht daher im Modus der Potentialität, wohingegen bei Foucault der Aussagenpositivität durch ihr charakteristisches Merkmal als Ereignis ein Möglichkeitspotential zukommt. Was bei Bourdieu sozialpragmatisch als subjektbezogene Möglichkeit reguliert ist, muss bei Foucault transzendent als objektive Möglichkeit beschrieben werden.35 Foucaults Fokussierung (positiv) realisierter Aussagen impliziert gleichsam die Negativpositionen, nämlich jene nicht realisierten Aussagen, welche einen Bereich des Unsagbaren beschreiben. Die Trennung zwischen dem zu einem gegebenen Zeitpunkt Sagbaren und Unsagbaren lässt sich alleine durch die regulierende Instanz des Archivs in seiner Funktion als „loi de ce qui peut être dit“36, als „système qui régit l’apparition des énoncés comme événements singuliers“37, kurzum als System der Aussagbarkeit erklären. Als „repository of the historical a priori of a given period which conditions the practices of exclusion and inclusion that are ingredient in all social exchange“38, so Flynn, kommt dem Archiv eine rein strategische oder strukturelle Funktion zu. Es aktiviert keine Aussagenmöglichkeiten, sondern ermöglicht aus einer zeitlich von der diskursiven Realisierung abgehobenen Perspektive die Beschreibung von nicht mehr der Aktualität zugehörigen Diskursen. Dynamiken werden folglich nicht geschaffen, sondern anhand der Beschreibung von diskursiv realisierten Brüchen und Zäsuren sichtbar gemacht. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie sich die beiden theoretischen Ansätze in der themenspezifischen praktischen Anwendung zusammenfügen und für die Analyse nutzbringend auswerten lassen.

      1.1.3 Prämissen der methodischen Anwendung: Die feldspezifische Positionierung von Jean Genet und die Bedeutung des revolutionären Diskurses

      Die beiden unterschiedlichen Konzepte des Möglichkeitsfeldes finden bei Foucault und Bourdieu in der Vorstellung eines aussagenspezifischen Korrelationsraums eine Schnittmenge, die den Ausgangspunkt für die sich anschließende Analyse formen soll. Die textuelle Grundlage bildet ein Korpus politischer, teils journalistischer, teils literarischer, Schriften Jean Genets, sodass sich die Untersuchung um eine Autorenpersönlichkeit innerhalb der gesellschaftspolitisch ereignisreichen Jahrzehnte der 1960er und 1970er Jahre zentriert.

      Anhand seiner zwischen 1968 und 1983 entstandenen Texte soll ein historisch determiniertes Aussagensystem herausgearbeitet werden, das auf der Basis textueller Interdependenzbeziehungen in Erscheinung tritt. Trotz dieser Autorenzentrierung, welche den diskursanalytischen Prämissen entgegenläuft und daher einen flexiblen Umgang erfordert, können Foucaults Bestimmungskriterien nutzbar gemacht werden: Gemeinsame Diskursobjekte, -konzepte und -typen repräsentieren wichtige Marker einer diskursiven Einheit. Die historische Situierung von Genets Stellungnahmen erfolgt durch das Erfassen von Interdependenzverhältnissen sowohl auf der personalen, als auch auf der textuellen Ebene. Die interpersonalen Relationen ergeben sich aus dem zeithistorischen und biographischen Kontext und determinieren auch die textuellen Referenzen. So werden in einem ersten Schritt beispielsweise ausgewählte, in konkreten, zeitpolitischen Situationen entstandene Schriften Genets mit vor demselben historischen Hintergrund verfassten Texten Michel Foucaults und Jean-Paul Sartres einerseits sowie solchen Allen Ginsbergs und William S. Burroughs’ andererseits kontrastiert. Der so abgesteckte Kommunikationsraum zwischen den Autoren soll in Analogie zu Bourdieus Konzept feldspezifisch strukturiert werden. Genets politische Positionsnahmen werden daher in einem ersten Teil im intellektuellen Feld in Frankreich und in einem zweiten Teil im gegenkulturellen Feld in den USA situiert. Insbesondere jener Aspekt aus Bourdieus Feldanalyse, wonach stets der Einzelpersönlichkeit ein feldspezifischer Distinktionswert zuerkannt und der Bereich der Stellungnahmen in Homologie zu den Einzelpositionen betrachtet wird, erweist sich in Hinblick auf die so komplexe und schillernde Autorenpersönlichkeit eines Jean Genet als gewinnbringend. Wie die Analyse aufzeigt, kennzeichnet sich seine Positionierung in beiden Feldern tatsächlich durch eine ostentative und strategische Desertion.

      Genet betritt die politische Bühne Frankreichs erstmals während der studentischen Unruhen im Mai 1968, erwehrt sich jedoch von Beginn an einer öffentlichen Funktionalisierung seiner Persönlichkeit für bestimmte politische Zielsetzungen. Obgleich er sich im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen bewusst von seinem literarischen Werk distanziert, beansprucht er auch weiterhin die Denomination als Poet für sich, die ihm gegenüber Sartre und Foucault als Differenzierungsmodell dient. So berichtet Edmund White in seiner monumentalen Biographie, dass Genet die Publikation eines zeitkritischen Artikels mit den Worten verweigert:

      I don’t want to publish anything about France. I don’t want to be an intellectual. If I publish something about France, I’ll strike a pose as intellectual. I am a poet. For me to defend the Panthers and the Palestinians fits in with my function as a poet. If I write about the French question I enter the political field in France – I don’t want that.1

      Genets Sonderweg spiegelt sich entsprechend in seinen zwischen 1968 und 1983 publizierten, aber auch unveröffentlichten Texten und Werken wider, die von diesem essentiellen Spannungsverhältnis zwischen einem rein poetischen Anspruch und der politischen Intentionalität zeugen, wodurch die ohnehin komplizierte Verortung seines Werks erschwert wird. Innerhalb der Untersuchung seiner Position


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