Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer
dem Jüngeren. Auguste Thierry.
L’Indifférent (1. März 1896 in: La Vie Contemporaine; dt. Der Gleichgültige, in: Freuden und Tage, S. 242–257) Es handelt sich hierbei um eine kleine Novelle, in Prousts Worten eine »nouvelle imbécile« (Corr. X, S. 197), die bald nach ihrem Erscheinen wieder vergessen worden war, bis Proust sich im November 1910 an sie erinnerte und Robert de Flers fragte, ob er ihren Abdruck noch habe, da er sie jetzt brauche. Es handelt sich um die Skizze einer zur Manie gewordenen Liebe, wie wir ihr dann in Eine Liebe von Swann breit ausgeführt wiederbegegnen, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: in L’Indifférent ist es eine große Dame, »Madeleine«, die sich in einen Mann verliebt, der von ihr nichts wissen will – und weil er von ihr nichts wissen will. Wie Kolb in seinem Vorwort hervorhebt, ist es eben diese von Proust beschriebene »berühmte Maxime der Koketterie« des »wenn ich dich nicht liebe, wirst du mich lieben«11, was auch die Beziehung zwischen Swann und Odette, Marcel und der Herzogin von Guermantes, Marcel und Albertine, Saint-Loup und Rachel überschattet. Daneben finden sich auch etliche Einzelheiten aus Un amour de Swann bereits in dieser Novelle, wie etwa die »catléya« oder die Fetischisierung eines Gemäldes, das in den Augen des/der Verliebten der/dem Geliebten ähnelt; auch der Namenwahl »Madeleine« dürfte das gleiche Sündenmotiv zugrunde liegen, das die »Petite Madeleine« in Combray so attraktiv macht. – Diese frühe Fingerübung in der Psychologie der Liebe geriet abermals in Vergessenheit, bis Philip Kolb sie 1978 wieder ausfindig machte und bei der Nouvelle Revue Française erneut publizierte.
Les Plaisirs et les Jours (1896 bei Calmann-Lévy; dt. Freuden und Tage) Eine Zusammenstellung früherer Publikationen in den Zeitschriften Le Banquet und La Revue blanche aus den Jahren 1892–96, die von Madeleine Lemaire illustriert und von Reynaldo Hahn mit vier Stücken für Klavier ausgestattet wurde; mit einem Vorwort von Anatole France. Diese in nur kleiner Auflage hergestellte Liebhaberausgabe blieb praktisch unverkauft. 1924 erschien bei Gallimard eine reine Textausgabe. Der Titel des künstlerisch aufgemachten Buches, dessen Texte eine hedonistische Gesellschaft am Ende ihrer Zeit skizzieren und in dessen geistigem Zentrum die schönen Künste stehen, lehnt sich ironisch an Hesiods griechisches Lehrgedicht Erga kai hemerai an (8./7. Jh. vor Chr.; dt. Werke und Tage; frz. Les Travaux et les jours, Übers. Leconte de Lisle), das auf der einen Seite eine Theorie der Weltzeitalter und des unaufhaltsamen Niedergangs entwickelt, jedoch auf der anderen Seite auch die tägliche Problematik der bäuerlichen Überlebenskunst diskutiert.
Jean Santeuil Während eines Urlaubs 1895 in der Bretagne nahm Proust jenen »deutschen Bildungsroman« in Angriff, den er bereits 1893 in Violante ou la mondanité (dt. Violante oder die mondäne Welt; EA in Le Banquet, Wiederaufnahme in Les Plaisirs et les Jours) angekündigt hatte. Das Manuskript wurde unter den Papieren von Prousts Nichte Adrienne gen. Suzy Mante-Proust aufgefunden und 1952 von Bernard de Fallois unter dem Titel Jean Santeuil, dem Namen der Hauptperson, bei Gallimard herausgegeben. Das Romanprojekt erzählt in der dritten Person in einer Mischung aus Autobiographie und Fiktion von der Jugend Jeans, die er in einem Zustand naturekstatischen Egozentrismus verbringt, verliert sich dann jedoch zunehmend ins Fragmentarische, als es gilt, den Protagonisten in die Welt hinauszuführen und ihn mit deren Wahrnehmung der Wirklichkeit zu konfrontieren. Während sich das Ich des im Ich befangenen jungen Jean noch von außen vom Standpunkt einer dritten Person beschreiben ließ, wird die Er-Form zunehmend problematisch, als es darum geht, das Abbild der Außenwelt in der Innenwelt des Protagonisten zu betrachten. 1899 gab Proust das Projekt auf, benutzte es jedoch als Ideenreservoir bei der Arbeit an der Suche; zahlreiche Schlüsselmotive sind aus dem Romanfragment in wenig veränderter Form übernommen, so der Gutenachtkuss, die Weißdornblüten, der Besuch in einer Garnisonsstadt, das Herzogspaar, die Dreyfusaffäre, sowie zahlreiche Skizzen zum Thema Liebe und Eifersucht. Vor allem aber zeichnet sich in Jean Santeuil bereits Prousts Unterscheidung von zwei Formen von Erinnerung ab, der willentlichen und der unwillentlichen, eine Entdeckung, der er in Contre Sainte-Beuve weiter nachgehen und die er in der Suche endgültig ausarbeiten wird.
Eine deutsche Übersetzung von Eva Rechel-Mertens erschien 1965 unter dem Titel Jean Santeuil bei Suhrkamp; eine Überarbeitung dieser Übersetzung durch Luzius Keller erschien 1992 im selben Verlag.
La Bible d’Amiens (1904, Mercure de France) Auf Ruskin ist Proust vermutlich von seinem Professor an der École libre des sciences, Paul Desjardins, aufmerksam gemacht geworden, der ab 1893 Übersetzungen von Auszügen aus Ruskins Werken publizierte. Als Proust 1899 Urlaub in Évian am Fuß der Alpen machte, überkam ihn ein so dringendes Bedürfnis, »die Berge mit den Augen dieses großen Mannes zu sehen« (Corr. II, S. 357), dass er seinen Urlaub abbrach, um sich in Paris in Robert de La Sizerannes Studie Ruskin et la religion de la beauté (1897) vertiefen zu können. Noch im selben Jahr nahm Proust dann die Übersetzung der Bible of Amiens (1884) in Angriff, die 1903 abgeschlossen wurde. Der Text wird begleitet von einem umfangreichen Vorwort Prousts, das von seiner eingehenden Auseinandersetzung mit der Architektur der Gotik zeugt, von der auch zahlreiche Partien in der Suche profitiert haben; insbesondere das Strukturkonzept, das Proust bei Jean Santeuil noch gefehlt hatte, das des Romans als Kathedrale, hat die Suche sicherlich der Auseinandersetzung mit Ruskins Werk zu verdanken. Wie sehr es Proust aber verstanden hat, bei aller Assimilation doch die Distanz zu Ruskin (und zu sich selbst) zu wahren, zeigt übrigens sein brillanter Ruskin-Pastiche »La Bénédiction du sanglier« aus dem Nachlass (vermutl. 1908; in: La Nouvelle Revue Française, 1. Okt. 1953; dt. »Die Segnung des Ebers«, in: Nachgeahmtes und Vermischtes).
Sésame et les Lys (1906, Mercure de France) Anfang 1904 begann Proust in Zusammenarbeit mit Marie Nordlinger mit der Übersetzung von Ruskins Sesame and Lilies (1865), zwei Vorträgen, deren erster, Of Kings’ Treasuries, vom richtigen Umgang mit Büchern handelt, während der zweite, Of Queens’ Gardens, die Mädchenerziehung zum Thema hat. In der Auseinandersetzung mit dem ersten Thema gab Proust der Übersetzung als Vorwort einen Essay Sur la lecture mit, den er 1905 in La Renaissance latine vorveröffentlicht hatte und 1919 mit geringen Veränderungen unter dem Titel Journées de lecture (dt. Tage des Lesens) in die Sammlung Pastiches et mélanges aufnahm. (Dieser Titel ist etwas irreführend, da Prousts Rezension von 1907 der Memoiren der Madame de Boigne den gleichen Titel trägt.) Darin finden sich bereits die Erinnerungen an Lektüreerlebnisse, die dann auch Eingang in Combray gefunden haben. Ein Faksimile der Handschrift wurde zusammen mit begleitenden Essays und einer Transkription 2004 unter dem Titel Sur la lecture – Tage des Lesens von Jürgen Ritte und Reiner Speck bei Suhrkamp herausgegeben.
Pastiches et mélanges (1919, Gallimard; dt. Nachgeahmtes und Vermischtes) Eine Sammlung von Pastiches um die Lemoine-Affäre, die 1908 und 1909 im Figaro erschienen, einem neuen Pastiche zum gleichen Thema im Stil von Saint-Simon, den Essays »Tage des Lesens« und »Sohnesgefühle eines Muttermörders« von 1905 bzw. 1907 sowie verschiedenen Artikeln zu Ruskin und zur Sakralarchitektur aus den Jahren 1900–04. Die deutsche Übersetzung wurde noch um fünf Pastiches aus dem Nachlass vermehrt. Während die Ruskin-Texte Prousts eigenständige Auseinandersetzung mit seinem Autor unter Beweis stellen, wirken die Pastiches wie Sprechübungen für die verschiedenen Stimmen, mit denen Proust in