Shira und Paul der Mahner. Helmut Lauschke

Shira und Paul der Mahner - Helmut Lauschke


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haben. Wir sind besitzlose Bettler geworden und retten unsere Haut mit Kopf und Kragen.

      Tarek. Und das Mehr an Gleichheit bezieht sich auf den Stand der Bettler.

      Paul. Ja, auf jene mit dem letzten Hemd und den leeren Händen, denn in der Besitzlosigkeit gleichen sich die Menschen am meisten, da geht es bis zur letzten Notdurft gemeinsam und ohne Neid.

      Tarek. Doch der Schmerz in der Besitzlosigkeit ist verschieden, die einst Wohlhabenden empfinden die besitzlose Gleichheit schmerzhafter als die, die schon vorher nur wenig oder nichts hatten.

      Paul. Doch was denkst du von den Händen der Menschen?

      Tarek. Da geb ich dir recht, wo sich die großen Hände von den kleinen unterscheiden, was der Gleichheit widerspricht.

      Paul. Und die Ungleichheit wird noch stärker, wenn die Hände sich zu Schalen formen und in Bettelmanier gestreckt uns entgegengehalten werden, um gefüllt zu werden mit Dingen die nötig sind, wenn es den Hunger und den Durst betrifft.

      Tarek. Da kleine Menschen auch große Hände und große Menschen kleine Hände haben können, treten bei der Verteilung die Ungleichheiten auf, die als ungerecht empfunden werden.

      Paul. Die Hände lassen sich weder verkleinern noch vergrößern, wenn vom Wachstum kindlicher Hände abgesehen wird. Du siehst, mein Freund, wie die Form mit dem Format die Gleichheit durcheinander bringt, wenn es um die Hände geht.

      Tarek. Und wie ist es mit den Köpfen, die sich in Form und Größe unterscheiden?

      Paul. Der Kopf ist ein besonderer Behälter, der das Gehirn zum Inhalt hat, während die Hand nur Muskeln und Sehnen zu den Fingern führt. Was ich damit sagen will, ist, dass im Kopf die Gedanken entwickelt und der Wille formiert werden, während Muskeln und Sehnen der Hand die Finger in Bewegung setzen, wie es das Hirn schaltet und befiehlt.

      Tarek. Dann sind es die Bewegungsabläufe, durch die und in denen sich die eine Hand von der anderen unterscheidet.

      Paul. Und was für die Hände gilt, gilt nicht weniger für die Füße, denn im Gang unterscheidet sich der eine Mensch vom andern, und das im Tempo und der Art des Zusammenspiels der Muskeln im Bewegungsverlauf.

      Tarek. Auf großem Fuße leben, bleibt hier eine Illusion, die bei Tage betrachtet den größeren Eindruck hinterlässt.

      Paul. Es zählt nicht mehr das zu tragende Gewicht, es sei denn das Kind und die alte Mutter, die den Weg auf eigenen Füßen nicht schaffen. Da wird die Ungleichheit zur Menschlichkeit, wird Ausdruck der tätigen Liebe am Nächsten. Und auf diese Tätigkeit kommt es an, die im tiefsten Sinne auf dem Glauben beruht, dass das Leben, ohne dem andern zu helfen, wertlos und ein vergeudetes Leben ist.

      Tarek. So sprach auch Sirna, die das Wunder erlebte, dass auf dem langen und steinigen Weg ein freundlicher Mann den kleinen erschöpften Izmir auf seine Schultern setzte und bis zum Lager trug, wo er ihm noch die Flasche Wasser gab.

      Paul. Das ist, was ich meine, edel sei der Mensch und gut, wenn das Leben Sinn und Wert bekommen soll. Denn ohne diese Güte sitzt der Teufel uns im Nacken, den loszuwerden viele und meist junge Leben fordert und das Leben der Unschuldigen kostet und verschlingt. Darum halt ich es den Lehrern vor, nicht nur das Wissen, sondern auch die Güte der Herzensbildung zu vermitteln, denn das Wissen von den Dingen reicht nicht aus, um einen guten Menschen heranzubilden, der seinem Nächsten eine Hilfe ist, wenn er sie braucht.

      Tarek. Es leuchtet ein und gibt ein helles Licht, was du über die Bildung sagst. Doch wo sind die Schulen und die Lehrer, die solch eine Bildung vermitteln?

      Paul. Hier im Lager findest du schnell die Menschen, die durch eine solche Schule gegangen sind. Sie sind zwar oft armselig gekleidet, doch wenn sie sprechen und handeln, dann strömt ein Reichtum aus ihren Herzen, was Menschen aus deren Not heraushilft und ihnen das Leben leichter macht und Leben rettet und den Tag mit der schweren Bürde erträglicher macht.

      Tarek. Diesen Menschen zu danken, das soll uns im Verständnis der Dinge dann auch selbstverständlich sein, denn die Werte ihrer Menschlichkeit sind doch unbezahlbar. Es ist ihre Selbstlosigkeit, die einem Wunder gleicht, dem sich Menschen unserer Zeit weit entfernt haben.

      Paul. Ja, die Menschen sind’s, die Not und Freude bringen, meist sind es Menschen in der Altersmitte, die beides tun, weil sie beides können.

      Tarek. Ob sie beides wollen, das wiederum weiß ich nicht. Doch wie wir ihre Talente und Ziele erfahren, und das in dieser Zeit, sie neigen mehr, und viele ausschließlich dazu, andere Menschen, die unschuldig sind, in Not zu stürzen.

      Paul. Da geb ich dir recht, denn wie sonst kann ich die Lage sehen, die uns Vertriebene hier im Lager trifft. Wir haben die Heimat verloren und wissen nicht, ob wir sie jemals wiedersehen werden.

      Tarek. Und wenn wir sie wiedersehen, was, so glaube ich auch, die Ausnahme sein wird, dann werden wir sie nicht wiedererkennen.

      Paul. Die zerstörte Heimat ist wie der gefallene Krug, man kann die Trümmerstücke nicht so zusammensetzen, um das gelebte Ganze wiederzubekommen. Es wäre naiv gedacht, und die Dinge der Welt haben sich verändert, um sie auf dem ursprünglichen Stand wiederherzustellen.

      Tarek. Das gibt den Grund zur Trauer, dass die großen Werte, die von den Vätern in härtester Arbeit geschaffen wurden, wenn sie zerschlagen werden und zerbrochen sind, für uns und die folgenden Generationen verloren sind.

      Paul. Das ist, dass es Risse in den Bändern der Kulturen gibt, die nicht zu füllen und zu heilen sind. Es gibt Vermutungen, dass Barbaren gehaust und die hohen Werte zerstört haben. Denken wir an die ägyptischen und altgriechischen Skulpturen, denen die Nasen, Ohren, Köpfe und Arme abgeschlagen wurden. Diese Verluste sind nicht mehr zu ersetzen, dass die kulturelle Verarmung nicht rückgängig zu machen ist.

      Tarek. Was dem Durchschlagen der völkischen Wurzeln gleichkommt, dass Folgegenerationen die Orientierung über Herkunft und Zukunft auf die bedauerlichste Weise verloren haben.

      Paul. Und weiter verlieren. Denn woher sollen sie die Kenntnis nehmen, wenn die Bau- und Denkmäler der Kulturen zerschlagen sind? Es ist der Teufel dieser Zeit, der dem Fireden abhold ist und jeder Friedfertigkeit von Anfang an feindlich entgegenschlägt. Es ist der alte Zweifel mit dem Kampf zwischen Liebe und Hass, der ganze Völker in den Abgrund gezogen und vernichtet hat.

      Tarek. Das heißt, dass alles seinen Anfang und seine Geschichte hat.

      Paul. Nur muss sie erzählt werden beziehungsweise fürs Auge erkennbar und fürs Ohr hörbar sein. Wenn über die Geschichte nichts gesagt und fürs Auge nichts erkennbar wird, dann kann auch die Geschichte nicht verstanden und nicht weitergegeben werden. Und wenn das so ist, dann ist nicht vorstellbar, wo und wie weit zurück der Anfang zu ziehen ist.

      Tarek. Das ist, was mit unseren Städten und Dörfern geschieht, die samt ihren Bewohnern dem Hass zum Opfer fallen. Wir, die wir unsere Heimat verlieren und bereits verloren haben, werden auch unsere Geschichte verlieren, weil der durchgehende Faden über Herkunft und Kultur zerrissen ist.

      Paul. Das macht die ganze Sache überaus traurig, weil unsere Geschichte die von Vertriebenen beziehungsweise Verstoßenen beziehungsweise Ausgestoßenen ist, denen die Kraft der Überzeugung durch das Leben mit dem Hunger so stark geschwächt ist und dazu infrage gestellt wird, wenn die Worte mit der ganzen Wucht der Wahrheit überzeugen sollen.

      Tarek. Es ist die Verworfenheit der Geschichte der Menschen mit dem Verworfensein in die Geschichtslosigkeit, was dem Untergang der Zivilisation unmittelbar vorausgeht.

      Paul. In der das Unwiederbringliche zerschlagen wird und verloren geht, während wir am Lagertor


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