Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele
„Nein“, raunte er so energisch wie unter diesen Umständen möglich. „Er hat keinen Zugang dazu… hol ihn nicht, bitte!“
„Keinen Zugang? Wovon sprichst du?“
„Hör mir zu!“ Seine Worte kamen genau so stoßweise wie sein Atem. Das Sprechen fiel ihm von Sekunde zu Sekunde schwerer, als umklammerte eine unsichtbare Hand seine Kehle. „Ich habe nicht viel Zeit, es ist stärker geworden. So viel stärker.“ Das blanke Unverständnis in meinen Zügen mahnte ihn zur Eile. „Lass mich nicht alleine! Lass mich nicht alleine, hörst du?“
„Ja, ich bleibe heute Nacht bei dir.“
„Nein, das meine ich nicht. Gib mich nicht auf! Bleib bei mir, hörst du? Gib mich nicht auf!“ Diese letzten Worte waren nur noch ein heiseres Krächzen, dann versiegte seine Stimme. Robs Augen schlossen sich. Seine Hand löste sich aus der meinen. Dann lag er ruhig da. Schwach ging sein Atem.
„Nein, ich werde dich nicht aufgeben.“ Angst hielt mein Herz umklammert. Wohlbegründete Angst um den geliebten Bruder. Unversehens verschleierten heiße Tränen meinen Blick. „Niemals, hörst du? Niemals! Ich verspreche es.“
Wie viele Stunden ich neben ihm wachend und grübelnd zubrachte, bis mich der Schlaf übermannte, weiß ich heute nicht mehr. In jener Nacht kehrte er zurück, der gleiche Traum, den ich bereits auf Radan geträumt hatte. Wieder trug ich den schweren Stapel Bücher. Wieder folgten mir die dunklen Schatten. Zwischen den freiliegenden Wurzeln abgestorbener Bäume lag Rob. Starr und kreidebleich, die Augen weit geöffnet. Schwarze Tränen flossen unaufhörlich heraus, ein pulsierender Sturzbach aus zäher Tinte. Er war nicht mehr zu retten, dessen war ich mir überraschend gewiss. Dennoch wollte ich nur noch zu ihm und ließ die verfluchten Bücher achtlos fallen. Wie eine Wand schoben sich daraufhin die Schatten zwischen Rob und mich, vernebelten jede Sicht und ließen mich nicht passieren. Was immer ich auch versuchte, ein Durchkommen war unmöglich. Schließlich gab ich es auf. Mein Blick fiel auf die zu meinen Füßen verstreuten Bücher, die zu Staub zerfielen, als liefen Jahrzehnte in Sekunden ab. Ich sah auf. Die Schatten waren verschwunden. Und Rob mit ihnen.
Am Morgen sah ich den Traum verwirklicht. Mit angewinkelten Beinen lag ich vor Robs Bettstatt, mein Oberkörper ruhte in unbequemer Position am Fußende. Das Bett war leer. Keine Spur von Rob.
Ein kurzer Blick durch die Kammer genügte, um mir zu sagen, dass sowohl sein Rucksack als auch der Langbogen fehlten. Mit flauem Gefühl im Magen rannte ich aus dem Haus und den Kiesweg hinunter ans Meer. Sicher war Rob im Morgengrauen kurzerhand zum Fischen aufgebrochen, wie er es oftmals tat, wenn ihn etwas beschäftigte. Wozu in aller Welt benötigte er auf See seinen Bogen mit den Pfeilen? Das Boot lag am Strand an genau der Stelle, an der ich es gestern Abend zurückgelassen hatte. Dann war er mit Sicherheit jagen. Das machte auch am ehesten Sinn. Innerlich aufgewühlt ging ich zum Haus zurück. Der Druck in der Körpermitte intensivierte sich. In diesem Moment wusste ich, Rob war fort. Hatte er mich nicht gebeten, auf ihn achtzugeben, ihn nicht alleine zu lassen? Wäre ich nicht eingeschlafen, wüsste ich wo er sich befand, wohin er gegangen war. Ich hätte ihm folgen und mein Versprechen halten können.
In meiner Verzweiflung wurde mir klar, mein Schweigen brechen zu müssen. Das Verlangen, mich anzuvertrauen, wurde unwiderstehlich. Naturgemäß suchte ich sogleich nach unserem Vater, der jedoch weder im Haus noch in der Werkstatt war. Also eilte ich wieder zum Strand hinunter, in der Hoffnung, ihn dort irgendwo zu finden. Stattdessen lief mir Krister Bergmark über den Weg. Mein besorgter Gesichtsausdruck schien Bände zu sprechen.
„Jack, was ist los? Du siehst aus, als wärst du dem Leibhaftigen begegnet.“
„Rob ist fort“, sprudelte es aus mir heraus. „Hast du meinen Vater gesehen? Ich muss ihn finden!“
Krister schüttelte verständnislos den Kopf. Er spürte intuitiv den Ernst der Situation. „Nun mal langsam, immer schön der Reihe nach. Was meinst du damit, Rob ist fort?“
Den Tränen nahe sah ich Krister Bergmark an und wusste, meinen Vater nicht länger suchen zu müssen, um mich jemandem anzuvertrauen.
Wir erreichten Radan bei bestem Wetter gegen Mittag des folgenden Tages. Nicht die Spur einer Wolke trübte den tiefblauen Frühjahrshimmel. Warmer Wind schickte das erste vollmundige Versprechen auf den nahenden Sommer. Ich hatte die Nacht kaum ein Auge zugemacht und war wie nicht anders zu erwarten während der Überfahrt in tiefen Schlaf gefallen. Wieder quälten mich flüsternde Stimmen, erschienen geisterhafte Schatten, die mich bisher nur auf meinen nächtlichen Irrfahrten heimgesucht hatten. Nun stellten sie sich auch am Tage ein. Hier mitten auf der Tethys, in einem kleinen Boot, welches auf dem Weg zum Ursprung allen Übels war. Mehrere Male, wie Krister mir nachträglich berichtete, war ich im Schlaf unruhig geworden und hatte zu sprechen begonnen, einmal sogar um mich geschlagen. Er hütete sich jedoch davor, mich zu wecken. Ich hatte ihm erzählt, wie meine Nächte seit der Rückkehr von Radan aussahen, und ihm war klar, dass jede Minute Schlaf eine Kostbarkeit darstellte.
Kurz vor der Ankunft erwachte ich ruckartig. Zu laut waren sie geworden, die spitzen Schreie, die in meinem Innersten nachhallten. Mir war, als lebte ich den Schmerz eines gepeinigten Wesens nach, eines Wesens, das mich dazu erkoren hatte, sein Leid in diese Welt zu tragen. Konnte es sich um Rob handeln? Lotste er mich auf diese verfluchte Insel zurück?
Krister war meinen Anweisungen gefolgt und am westlichen Ende der hufeisenförmigen Bucht ganz im Süden Radans gelandet. Hellwach übernahm ich nun das Ruder und steuerte auf den Küstenabschnitt zu, an dem Rob und ich vor wenigen Tagen gestrandet waren.
Wie oft waren wir im Laufe unseres Lebens schon hier gewesen? Unzählige Male. Auckland, die größere Nachbarinsel, wies bei weitem die schöneren Strände auf, weswegen wir meist sie wählten, wenn es darum ging, ein paar Tage von zu Hause weg zu verbringen. Womöglich lag es auch an den Moas, die es auf Auckland gab, wenn auch es sich nur um eine kleinere Art handelte als auf dem Festland. In dieser Hinsicht hatte Radan wenig zu bieten. Dafür brannte sich die Insel nun auf ganz andere Art und Weise in meine Erinnerung ein.
Wir legten an exakt der gleichen Stelle an, die Rob gewählt hatte, um den gebeutelten Kahn wieder seefest zu machen. War das wirklich erst weniger als eine Woche her? Als meine Füße Radans Boden berührten, ging ein befreiendes Seufzen durch mein Inneres. Abermals fragte ich mich, wer oder was hier seinen Willen durchsetzte.
„Wo ist sie denn nun, diese geheimnisvolle Höhle?“ Krister vertäute das Boot gewissenhaft und sah mich dann fragend an.
„Keine fünf Minuten von hier.“ Wir stapften den Strand hoch, gingen genau denselben Weg wie Rob und ich es vor noch nicht all zu langer Zeit getan hatten. Schon von weitem sah ich sie. Der dunkle Schlund im Kliff wirkte wie der Eingang zur Unterwelt, er gähnte mir schon von weitem entgegen. Mir schauderte beim Gedanken an das Skelett, das darin lag. Unschlüssig blieb ich stehen.
„Und jetzt? Gehen wir nicht hinein?“ erkundigte sich Krister.
Ohne eine Antwort zu geben kramte ich Feuersteine hervor und entfachte eine Fackel. Tief durchatmend setzte ich mich schließlich in Bewegung. Krister folgte dicht hinterdrein. Den muffigen Geruch im Innern der Höhle hatte ich das letzte Mal gar nicht wahrgenommen. Lag es an dem Knochenmann, der seit Tagen freilag und still vor sich hin moderte? Nein, das war unmöglich, an ihm war nun wirklich nicht mehr viel dran, das modern konnte.
Die prasselnde Flamme leuchtete jeden Winkel aus. Dort war der Platz, an dem ich mit dem Brummschädel meines Lebens von den Toten erwacht war. Mit gemischten Gefühlen machte ich die nächsten Schritte. Der innere Widerstand traf mich unvorbereitet. Was in aller Welt sperrte sich derart dagegen, diesen Ort wieder zu betreten?
Ja, da lagen sie, die mysteriösen Schriften, deren Entdeckung ich am liebsten ungeschehen machen würde. Krister staunte nicht schlecht, als ich ihm zwei Bücher in die Hand drückte, die er betrachtete wie einen noch niemals zuvor ins Netz gegangenen Fisch. Schriftgut jeder Art war ihm von jeher ein Gräuel, und ich bin nie ganz sicher gewesen, ob er überhaupt ordentlich lesen konnte.
„Hier, die Reste der Mauer. Dahinter liegt auch das Skelett, und es hatte ordentlich Lektüre