Stolz und Vorurteil. Jane Austen
daß sie nicht umhin konnte, ein Gespräch zwischen ihm und Mr. Bingley mit anzuhören; der hatte die Tanzenden verlassen, um seinen Freund aus seiner Interesselosigkeit zu reißen.
»Los, Darcy«, sagte er, »du mußt auch einmal tanzen. Es wird mir zu dumm, dich in dieser blöden Weise hier allein herumstehen zu sehen. Wenn du doch schon hier bist, ist es viel vernünftiger, du tanzt.«
»Alles andere lieber als das! Du weißt, wie sehr ich es verabscheue, mit jemand zu tanzen, den ich nicht kenne. Und in einer Gesellschaft wie dieser hier wäre es geradezu unerträglich. Deine Schwestern haben beide einen Partner, und außer ihnen gibt es auch nicht ein einziges Mädchen im ganzen Saal, mit dem sich zu zeigen nicht eine Strafe wäre.«
»Nicht für ein Königreich möcht’ ich solch ein Mäkler sein wie du!« rief Bingley aus. »Auf Ehre, ich hab’ noch nie so viele nette Mädchen auf einmal kennengelernt wie heute abend; viele sind sogar ganz ungewöhnlich hübsch.«
»Du tanzt ja auch mit dem einzigen Mädchen, das hier wirklich gut aussieht«, erwiderte Darcy und schaute gleichzeitig zu Jane hinüber.
»Ja, sie ist das wunderbarste Geschöpf, das mir je vor Augen gekommen ist! Aber gerade hinter dir sitzt eine ihrer Schwestern, die sehr nett aussieht und wahrscheinlich auch sehr nett ist. Ich werde meine Dame bitten, dich ihr vorzustellen.«
»Welche meinst du?« Darcy drehte sich um und betrachtete Elisabeth, bis sie unter seinem Blick hochsah. Daraufhin wandte er sich wieder an seinen Freund und meinte gleichgültig: »Erträglich, aber nicht genügend, um mich zu reizen. Außerdem habe ich heute keine Lust, mich mit jungen Damen abzugeben, die von den anderen Herren sitzengelassen worden sind. Kehr du nur wieder zu deiner Tänzerin zurück und sonne dich in ihrem Lächeln; bei mir vergeudest du doch nur deine Zeit.«
Mr. Bingley folgte seinem Rat, und Darcy nahm seinen Rundgang wieder auf. Elisabeths Ansicht über ihn war nicht sehr freundlich, aber nichtsdestoweniger berichtete sie ihren Freundinnen voll Humor ihr kleines Erlebnis; denn da sie selbst von Natur lustig und heiter war, lachte sie gern, auch wenn es auf ihre eigenen Kosten ging.
Im übrigen verlief jedoch der Abend zur vollsten Zufriedenheit der ganzen Familie. Mrs. Bennet hatte die Freude gehabt, ihre älteste Tochter von dem Netherfield-Kreis akzeptiert zu sehen: Mr. Bingley hatte zweimal mit ihr getanzt, und seine Schwestern zeichneten sie durch größte Zuvorkommenheit aus. Janes Freude und Stolz hierüber waren wohl nicht geringer als die ihrer Mutter, aber sie ließ es sich nicht so sehr anmerken. Elisabeth teilte als gute Schwester Janes Freude. Mary hatte sich Miss Bingley gegenüber als das gebildetste junge Mädchen aus der ganzen Nachbarschaft rühmen gehört. Und die beiden Jüngsten, Catherine und Lydia, konnten das unwahrscheinlichste Glück für sich in Anspruch nehmen, nicht einen einzigen Tanz ausgelassen zu haben, und das war das einzige, worauf es ihnen vorläufig bei einem Ball ankam.
Sie kehrten daher alle in bester Laune nach Longbourn zurück, dem Dorf, dessen vornehmstes Haus das ihre war. Mr. Bennet war noch auf. In Gesellschaft eines guten Buches vergaß er die Zeit. Am heutigen Abend kam noch ein gut Teil Neugierde hinzu, ihn wach zu halten; er wollte doch gern wissen, wie das Fest verlaufen war, das so viele Hoffnungen erweckt hatte. Im stillen hatte er wohl erwartet, die vorgefaßte Meinung seiner Frau über den neuen Nachbarn enttäuscht zu sehen; daß er sich seinerseits getäuscht hatte, darüber wurde er nicht lange im Zweifel gelassen.
»Wir haben einen herrlichen Abend verbracht.« Damit kam sie ins Zimmer. »Ein wundervoller Ball! Ich wünschte, du wärst dagewesen. Jane wurde bewundert – es ist gar nicht zu beschreiben! Alle sagten, wie gut sie aussehe; und Mr. Bingley fand sie wunderschön und hat zweimal mit ihr getanzt! Stell’ dir das bitte vor, mein Lieber! Zweimal hat er mit ihr getanzt! Und sonst hat er keine einzige zum zweitenmal aufgefordert! Zuerst forderte er Miss Lucas auf. Ich hab’ mich richtig geärgert, als er mit ihr tanzte; doch er hat sie gar nicht gemocht, na ja, weißt du, das wäre wohl auch schwer möglich gewesen. Aber schon während des ersten Tanzes schien ihm Jane aufzufallen; er erkundigte sich, wer sie sei, ließ sich vorstellen, und bat sie um den nächsten Tanz. Dann tanzte er den dritten mit Miss King und den vierten mit Maria Lucas und den fünften wieder mit Jane und den sechsten mit Lizzy und dann noch ein Boulangermenuett hinterher …«
»Um Gottes willen, ich will nichts mehr von Mr. Bingleys Tänzerinnen hören!« unterbrach Mr. Bennet sie ungeduldig. »Wäre er ein wenig rücksichtsvoller gegen mich gewesen, hätte er nur halb so viel getanzt. Schade, daß er sich nicht schon beim ersten Tanz den Fuß verstaucht hat.«
»Aber«, fuhr Mrs. Bennet fort, »ich bin ganz entzückt von ihm! Er sieht ungewöhnlich gut aus! Und seine Schwestern sind reizende Damen. Ihre Kleider waren das eleganteste, was ich je gesehen habe. Die Spitzen an Mrs. Hursts Kleid haben gut und gerne …«
Sie wurde wieder unterbrochen. Ihr Mann legte auf das energischste Verwahrung dagegen ein, jetzt einen Diskurs über Spitzen und Moden ertragen zu müssen. Sie sah sich daher gezwungen, das Thema in eine andere Richtung abzulenken, und berichtete mit ehrlicher Entrüstung und einigen Übertreibungen von dem unglaublichen Betragen des Mr. Darcy.
»Aber das weiß ich und das kann ich dir versichern«, schloß sie nach einiger Zeit, »Lizzy verliert nicht viel, wenn sie seinem Geschmack nicht entspricht; er ist ein ganz schrecklich unangenehmer, scheußlicher Mensch und gar nicht wert, daß man sich um ihn kümmert. Nicht zum Aushalten war es, wie hochmütig und eingebildet er hin-und herging und sich wunder wie
großartig vorkam! ›Erträglich – aber nicht genügend, um ihn zu reizen –!‹ Ich wünschte, du wärst dagewesen, mein Lieber, um ihn ein wenig zurechtzustutzen, du verstehst dich so gut darauf. Ich finde den Menschen abscheulich!«
4. KAPITEL
Als Jane und Elisabeth in ihrem Zimmer allein waren, vertraute die Ältere, die bis dahin kaum in die Lobpreisungen Mr. Bingleys eingestimmt hatte, ihrer Schwester an, wie sehr sie ihn bewundere. »Er ist alles, was ein junger Mann sein sollte«, sagte sie, »vernünftig und doch fröhlich und lebhaft; und sein Auftreten – ich hab’ noch nie so etwas erlebt: gleichzeitig so ungezwungen und so wohlerzogen!«
»Gut aussehen tut er auch«, erwiderte Elisabeth, »das kann einem jungen Mann ebenfalls nicht schaden. Also alles in allem, ein idealer Typ!«
»Daß er mich ein zweites Mal zum Tanzen aufforderte, das war doch sehr schmeichelhaft. Das hatte ich gar nicht erwartet!«
»Nicht? Ich ja. Das ist der große Unterschied zwischen uns: dich überrascht so etwas immer, mich nie. Was hätte selbstverständlicher sein können, als daß er dich noch einmal aufforderte? Es konnte ihm ja nicht gut entgangen sein, daß du mindestens fünfmal hübscher warst als alle anderen Mädchen im Saal. Nein, das war keine besondere Höflichkeit von ihm. Aber es stimmt, er ist wirklich sehr nett, und meinen Segen hast du. Dir haben schon ganz andere Hohlköpfe gefallen!«
»Aber Lizzy!«
»Ich weiß – du hast eine reichlich übertriebene Neigung, jedermann nett zu finden. Du entdeckst niemals einen Fehler an Menschen. Die ganze Welt ist in deinen Augen gut und schön. Ich glaube, ich habe dich noch nie über irgendwen etwas Unfreundliches sagen hören!«
»Ich möchte natürlich nicht unüberlegt und hastig urteilen; aber ich sage doch immer, was ich wirklich denke.«
»Eben, das weiß ich ja – das ist ja gerade das Wunder: so vernünftig zu sein, wie du es doch bist, und dabei so rührend blind gegenüber den Torheiten und der Dummheit deiner Mitmenschen! Gespielte Aufrichtigkeit ist eine gewöhnliche Erscheinung – man trifft sie überall. Aber Aufrichtigkeit ohne Hintergedanken oder Nebenabsichten, nur das Beste in jedem sehen und das noch verbessern, während man das Schlechte nicht beachtet, und das noch in aller Aufrichtigkeit – das kannst nur du! Seine Schwestern mochtest du also auch? Ganz so wohlerzogen wie er sind sie ja wohl nicht.«
»Das allerdings nicht, wenigstens erscheint es zunächst so. Aber die beiden sind ganz reizend, wenn man mit ihnen spricht. Miss Bingley wird auch auf Netherfield wohnen bleiben und ihrem Bruder das Haus führen. Es sollte