Jenseits des Tweed. Theodor Fontane

Jenseits des Tweed - Theodor Fontane


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stand. Er pflegte zu diesem Zwecke im Zimmer auf und ab zu gehen, die Anverwandte in ein Gespräch zu verwickeln und dabei abzuwarten, bis sie endlich der Schale den Rücken zukehrte; diesen Moment benutzte er dann, um seinen Überfall mit Mut und Geschicklichkeit auszuführen.

      Unmittelbar neben der alten Kirche liegt das Gefängnis von Canongate, ein wenigstens um etwas bemerkenswerterer Bau, wenn auch nur seiner lateinischen Inschrift halber. Dieselbe lautet: »Sic itur ad astra«, als ob der Weg durch das Canongate-Gefängnis eine besondere Anwartschaft auf den Himmel böte. Niemand in Edinburg hat mir diesen Widersinn erklären können. Vielleicht, daß das Gebäude in alten Zeiten einem völlig verschiedenen Zwecke gedient hat.

       Das Haus von John Knox

      Wir haben jetzt Canongate passiert, d. h. haben den am Hügelabhang liegenden Teil der großen Verbindungsstraße zwischen Holyrood-Palace und Edinburg-Castle hinter uns und treten jetzt da, wo die Straße den Hügelrücken erreicht hat und in horizontaler Linie sich fortzusetzen beginnt, in High-Street ein. An dieser Stelle nimmt die eigentliche Altstadt Edinburg ihren Anfang. Hier befand sich in früheren Jahren, wenn ich nicht irre, ein Tor, das die eigentliche Stadt von der Vorstadt schied, ähnlich wie sich Temple-Bar noch jetzt zwischen City und Westminster, oder die Porte St. Martin zwischen der Stadt und dem Faubourg erhebt. Gleich das erste Haus, das wir zur Rechten haben, wo Canongate sich plötzlich in die breitere High-Street erweitert und dadurch eine Art Eckhaus bildet, ist ein Gebäude von hohem Interesse. In diesem Hause lebte John Knox. »Und dies dieselbe High-Street«, so sagten wir uns, »die der mutige Mann so oft und so freudig entlang schritt, um in der alten St.-Giles-Kirche den Zorn Gottes auf die 'Gottlosen' herabzurufen!« - »Und dies dasselbe Canongate«, so setzten wir hinzu, »das er zögernd hinabstieg, wenn es andern Tags galt, die Drohworte von St. Giles vor der Königin in Holyrood-Palace zu entschuldigen oder – zu wiederholen!« Das Gebäude, wie es da ist, läßt an altem Ansehn nichts zu wünschen übrig, dennoch ist es, soviel ich weiß, eine Art Kunstprodukt, zu dessen Herstellung man im Lauf der letzten zehn Jahre geschritten ist. Man kam zu einer Art Kompromiß und behing sozusagen einen neu hergestellten Leib mit den alten Kleidern. Wie man von baufälligen Kirchen eine Reihe von Freskobildern loszulösen und diese Bilder dann neuaufgerichteten Wänden wieder anzufügen versteht, so hat man auch das alte Haus des John Knox einem unerläßlich gewordenen Umbau zu unterwerfen gewußt, ohne dadurch die Formen und Verhältnisse des Hauses zu zerstören oder gar gewisse Apartheiten und Ornamente desselben zu beseitigen. Die Weise, in der dabei von seiten der Bauverständigen verfahren wird, entgeht zwar niemals den Angriffen der antiquarischen Enthusiasten, aber wer könnte ihnen genügen? Hier in London hab' ich vor kurzem den Beauchamp-TurmDer Beauchamp-Turm ist unter den vielen Türmen und Plätzen, die im Tower gezeigt werden, so ziemlich der interessanteste. Er diente während des 16. Jahrhunderts (unter den Tudors) als Staatsgefängnis. Im Jahre 1852, als ich ihn zuerst sah, war er noch wohlerhalten und allem Anschein nach durchaus intakt; das Hauptzimmer mit seinen zahlreichen in den Kalk gekratzten Sprüchen und Wappenbildern (Inschriften von den Dudleys, den Pooles etc.) machte den Eindruck völliger Echtheit. Seitdem hat man das Innere des Turms ganz umgebaut und in die Mörtelbekleidung der neuen Wände basreliefartig alle die alten, mit mehr oder mindrer Sorgfalt losgelösten Stücke eingefügt. Gegen das Prinzip, das diesem Verfahren zugrunde liegt, läßt sich gewiß nichts Erhebliches sagen, aber das »wie«, die Art der Ausführung, hätte allerdings eine sorglichere und pietätsvollere sein können. Man hat die historische Patina hinweggeputzt, ohne welche diese Dinge aufhören, sie selbst zu sein. (im Tower) nach einem ähnlichen Prinzip, wie oben beschrieben, restaurieren sehen. Die von außen wahrnehmbaren Sehenswürdigkeiten des John Knoxschen Hauses bestehen aus drei Dingen: erstens aus dem kleinen Eckfenster im ersten Stock, von wo herab der Reformator häufig zu dem unten versammelten Volk gesprochen haben soll; zweitens aus einer Inschrift, die da lautet: »Love God above all and your neighbour as yourself« (Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst), und drittens aus einer bunt bemalten kleinen Holzpuppe, die sich unmittelbar neben jenem Eckfenster befindet und den Reformator selber, wie er zum Volke predigt, darstellen soll. Diese Puppe, wahrscheinlich nicht älter als 50 Jahre, ist das Produkt guten Willens und wenig Geschmacks. Sie hat nur das Gute, daß sie das Haus in unverkennbarer Weise markiert und dem Fremden ein Führer oder Fingerzeig wird, ohne dessen Hilfe das ziemlich unscheinbare Haus unter einer Masse ähnlicher Baulichkeiten verschwinden würde.

      High-Street weiter hinaufgehend, haben wir jetzt, zumal wenn wir uns auf der rechten Seite der Straße halten, einen Überblick über die drei Kirchen, die den Weg von Canongate bis Edinburg-Castle in drei fast gleiche Teile teilen und, ohne selber besonders schön zu sein, nicht wenig zu dem malerischen Effekt der ganzen Stadt beitragen. Vom Monumente Walter Scotts aus (siehe das zweite Kapitel), wo High-Street und Canongate im Profile vor uns liegen und eine Seiten-Vue gestatten, ist dieser Effekt freilich am größten, aber auch en face die Straße hinansteigend, so bald wir nur die eine Linie vermeiden, auf der die erste Kirche (Tron-Church) die beiden andren deckt, genießen wir eines prächtigen Anblicks.

       Blick auf die Altstadt von Edinburg

      Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit Tron-Church, haben diese alte, nichts Besonderes bietende Kirche unmittelbar zu unserer Linken und blicken nun, die Strecke bis zur St.-Giles-Kirche hinüberschauend, in den schönsten und historisch berühmtesten Teil von High-Street hinein. Die Dinge unterscheiden sich hier wesentlich von dem, was wir in Canongate gesehen. Die Häuser, die sich zu beiden Seiten der Straße erheben, sind ebenso alt oder noch älter als dort; die Leute, die drin leben, haben ebenso wenig oder noch weniger irgend etwas gemein mit jener Aristokratie, die hier wie dort einst ihre Paläste hatte; Schmutz, Armut und Hökerkram haben hier wie dort ihre Wohnung aufgeschlagen. Aber was den Unterschied macht, das ist das Massenhafte der Bauart, der wir hier begegnen. Die grauen Quaderhäuser mit breiten, vielfenstrigen Fronten steigen sechs und sieben Stock hoch in die Luft und geben der ganzen Straße das Ansehn einer Reihe von Palästen. Daß diese Paläste räuchrig und schmucklos, zum Teil schmutzig und halb verfallen sind, reicht nicht aus, der Straße diesen ihren Charakter zu nehmen. Die Häuser von Canongate gleichen vernachlässigten Sommerresidenzen, in denen der Adel früherer Jahrhunderte seinen temporären Aufenthalt nahm, hier auf dem Rücken des Hügels aber haben wir wirkliche Schlösser; hoch, fest, imposant. Diesen Charakter des Schloßartigen hat die Straße in so hohe Maße, daß die stattlichen Neubauten (Bank, Börse, Rathaus, Parlament) , die man hier und dort zu beiden Seiten der Straße aufgeführt hat, nicht imstande gewesen sind, den imponierenden Eindruck des Ganzen zu steigern – gegenteils. Ich komme später auf diesen Punkt zurück.

      Die einzelnen Häuser, selbst die besten, zu beschreiben, ist nicht möglich. Was über sie zu sagen ist, das ist gesagt. Eines gleicht dem andern. Grau, steinern, schmucklos steigen sie in die Luft, unmalerisch einzeln, aber pittoresk als Ganzes und immer wirksam durch Masse und Proportion. Was ihnen bei genauerem Einblick einen aparten Zug verleiht, das sind die sogenannten »Engen«, jene wunderlichen Kreuzungsprodukte von Hof, Mauergang und Sackgasse, die unter dem Namen der »Closes von Edinburg« in ganz England eine Art von Notorität erlangt haben. Diese »Closes«, wie schon aus meiner obigen Umschreibung hervorgeht, sind nicht geradezu etwas Neues und Besondres. Neben jenem Mischlingscharakter, der sie allerdings eigentümlicher erscheinen läßt als sie sind, verdanken sie ihren Ruf wohl zumeist dem Umstande, daß es in ganz England wenig alte Städte gibt, d. h. Städte, die sich noch in ihrem ehemaligen alten Aufzuge der Welt präsentieren. In unseren alten deutschen Städten ist an solchen Closes kein Mangel; unsre »Höfe« in Wien, Augsburg, Leipzig, Danzig, sind im wesentlichen dasselbe. Noch ähnlicher sind ihnen die »Courts« in den alten Stadtteilen Londons: besonders am Strand, um Drury-Lane herum und in Fleet-Street. Die letztere Straße ist so reich daran, daß man sie der High-Street von Edinburg fast an die Seite setzen könnte. Aber was diesen Closes, weit über ihren eigentlichen Anspruch hinaus, wenigstens den Schein von etwas Besonderem leiht, das ist ihre ganz aparte Enge. Man passiert zuerst einen schmalen, überwölbten, leider oft als Rinnstein dienenden Gang, der sich durch die ganze Tiefe des Hauses zieht, etwa wie ein Festungstor durch die ganze Tiefe der Mauer läuft. Hat man, nach vorsorglicher Applizierung eines Taschentuches, diesen im Dunkeln fließenden Schleichbach hinter sich, so steht man auf einem mal stein-, mal fliesenbedeckten Hofe, der bei der Höhe der Häuser, die ihn dicht umschließen, mehr einem Rauchfang als einem


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