Gregors Pläne. Hans Durrer
„Du tust gerade so als ob man für die Fragen, die einen umtreiben, verantwortlich sei. Doch ich habe keinen Schimmer, warum mich gerade diese und nicht andere beschäftigen. Ich habe auch nicht den Eindruck, ich hätte da eine Wahl. Da fällt mir übrigens gerade ein, dass es durchaus eine Antwort auf solche existenziellen Fragen gibt: Du musst Dir nur angucken, wie jemand lebt. Im Verhalten zeigt es sich, wie jemand denkt. Das ist die Antwort.“
Doch wieso soll es eigentlich arrogant sein, wenn ich etwas verschmähe, weil es mich nicht anspricht? Ich weiss übrigens auch gar nicht, was besser bzw. eine Alternative wäre. Es ist nur so, dass das, was diese Gesellschaft mir anbietet, mich nicht überzeugt, mir zu wenig ist. Während meines Jurastudiums, als ich gerade wieder einmal eine Krise hatte (Wie kann man sich, um Himmels Willen, bloss für die Ausgestaltung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Basler Gundeli von 1317 bis 1319 interessieren?), versuchte ein Freund meines Vaters, seines Zeichens Bankverwalter (heute würde man ihn CEO nennen), mich aufzumuntern: „Du kannst Anwalt werden. Oder Richter. Kannst zu einer Versicherung, einer Bank, in die Verwaltung. Als Jurist stehen Dir alle Türen offen.“ Nur dass ich nicht die geringste Lust hatte, auch nur eine einzige dieser Türen zu öffnen.
„Aber irgendetwas musst Du doch tun. Und dafür eben bereit sein, Kompromisse zu schliessen“, sagt U, die eine gut bezahlte Stabsstelle in der Verwaltung bekleidet, jetzt ziemlich heftig.
„Mach ich ja. Und für ein paar Monate geht das auch. Oder für Teilzeitarbeit.“
„Damit kommst Du kaum auf einen grünen Zweig.“
„Finanziell sicher nicht, da gebe ich Dir recht. Und womöglich auch sonst nicht. Doch mir scheint, etwas anderes geht für mich ganz einfach nicht.“
„Vielleicht solltest Du Dir mehr Mühe geben.“
„Ja vielleicht“, antworte ich. Man muss ja nicht alles, was man so von sich gibt, auch meinen.
Der Gedanke, ich könnte ein bequemer Hund sein, ist mir nicht fremd. Mein Vater sah mich so, und schmunzelte darüber. Jedenfalls habe ich es so in Erinnerung. Vor Kurzem habe ich festgestellt, dass mir kaum etwas mehr auf den Geist geht als Leute, die das Gefühl haben, sie hätten Anrecht auf irgendetwas, zum Beispiel eine gut bezahlte, qualifizierte Anstellung. einfach weil sie sind wie sie sind. Was bilden die sich eigentlich ein!, denkt es dann in mir, obwohl, irgendwie habe ich den Verdacht, ich sei auch so. Es ist mir peinlich.
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Pläne machen ist so recht eigentlich meine Natur. Ständig nehme ich mir vor, ab dann und dann (nie heute) alles total perfekt zu machen. Natürlich ist das lächerlich, sind meine Ansprüche an mich absurd. Andererseits: Kennen Sie Susan Sontag? Also die hatte Ansprüche! An alle, nicht nur an sich selber, da bin ich ein Waisenknabe dagegen. Ich soll nicht ablenken, sondern von mir reden? Aber Hallo, man muss sich doch in einem grösseren Kontext sehen. Kennen Sie Peter Bamm, den Arzt und Schriftsteller? Mein Vater, der auch Arzt war, schätzte ihn sehr. In einem Buch über Alexander den Grossen, schrieb Bamm: „Aber Aristoteles bildete nicht nur Alexanders Geist, sondern auch seinen Charakter, indem er ihn lehrte, nach Arete zu streben, jener aus den Tugenden der Gelassenheit und der Selbstbeherrschung bestehenden gehobenen Form innerer Harmonie.“ Das schwebt mir auch vor, danach strebe ich. Und wie mache ich das, praktisch? Indem ich mir immer wieder diesen Gedanken heranhole. Ich übertreibe. Ich würde das gerne häufiger tun, diesen Gedanken heranholen, meine ich. Aber wie bei allem verliere ich sehr schnell die Lust.
Heute habe ich mich in Walking Meditation geübt. Eine Einführung dazu erhielt ich in Bangkok, im World Fellowship of Buddhists, auf der Sukhumvit, ganz in der Nähe meines Hotels. Ich stand am einen Ende eines längeren Ganges. „Stellen Sie sich gerade hin, nehmen Sie das Ziel, worauf Sie zugehen wollen, ins Auge, prägen Sie es sich ein. Jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihre Füsse. Heben Sie sie einen nach dem andern. Senken Sie einen nach dem andern. Und lassen Sie sie abrollen, einen nach dem andern. Gehen Sie mit der Bewegung mit. Nichts anderes, nur das. Nach kurzer Zeit tauchen Gedanken auf und lenken Sie ab. Verscheuchen Sie sie nicht, doch geben Sie ihnen auch keine spezielle Aufmerksamkeit. Lassen Sie sie ruhig kommen. Wenn Sie sie nicht festhalten, gehen sie auch wieder.“
Diese Anleitung begleitet mich seither. Und manchmal setze ich sie sogar um, meistens auf meinen Lieblingsspaziergangstrecken zwischen Paspels und Scharans, Lavin und Susch, Sankt Moritz und Pontresina sowie Saas und Küblis. Doch nirgendwo ist es mir bisher besser gelungen als in japanischen Städten, in denen ich stundenlang unterwegs gewesen bin. Und an Sonntagen auf den menschenleeren Strassen im brasilianischen Santa Cruz do Sul.
Am Bahnhof von Cinuos-chel-Brail habe ich einmal etwas anderes versucht. Ich traf zwanzig Minuten vor Zugabfahrt ein. Mein Warten verkürze ich mir normalerweise mit einem Buch, dem Handy oder der Suche nach einem Kaffee. Doch diesmal, es war Winter, wollte ich das nicht. Es musste doch möglich sein, dass ich zwanzig Minuten lang nichts tat, einfach nur dastand. Und genau das tat ich dann auch. Meine Augen betrachteten die schneebedeckten Bäume, Tannenzapfen und vereinzelte kleine Äste auf dem gefrorenen Boden. Ich schaute nur. Und gab mir Mühe, gerade zu stehen. Während fünfzehn Minuten. Eine Premiere! Sich einfach nur auf das einzulassen, was gerade ist, ohne etwas zu tun, erlebte ich als völlig neue Erfahrung.
Übrigens: Die Thais seien in ihrer überwiegenden Mehrheit Buddhisten, lese ich vielerorts. Und die Schweizer Christen. Der Buddhismus lehrt, dass man nicht einfach glauben solle, was Buddha angeblich gesagt haben soll, sondern für sich prüfen, ob das Gesagte Sinn mache und es verwerfen, wenn dem nicht so sei. Das Christentum bzw. deren Vertreter fordern einen hingegen auf zu glauben, was die Kirchenvertreter predigen. Etwa die Dreifaltigkeit, die mir unverständlicher nicht sein könnte. Das Resultat? In Thailand herrscht der Aberglaube, in der Schweiz die Skepsis. Mir scheint, wir haben jeweils die Religion, die wir am meisten brauchen.
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„Was für Eigenschaften halten Sie bei einem Menschen für wesentlich?“
Die Personalbereichsleiterin ist Mitte vierzig, sportlich-elegant gekleidet und attraktiv. Sympathisch ist sie mir nicht; mir sind Leute, die beim Fernsehen arbeiten, grundsätzlich nicht sympathisch, ich halte sie für eitel und aufgeblasen. Wieso ich mich beworben habe? Aus Eitelkeit. Das sage ich natürlich nicht.
„Verlässlichkeit“, sage ich. „Und Aufrichtigkeit.“
„Ist Aufrichtigkeit wichtig, wenn man vor der Kamera steht?“
„Aufrichtig zu wirken halte ich für entscheidender.“
Sie lacht. „Haben Sie sich schon einmal vor einer Kamera ins Szene gesetzt?“
„Ja, vor einer Fotokamera, vor einer Filmkamera hingegen nicht.“
„Wirkten Sie da fotogen?“
„Schon, ja, doch es hängt auch von der Person hinter der Kamera ab.“
„Mit welchem ihrer Charakterzüge haben Sie am meisten Mühe?“
„Mit meiner Ungeduld.“
„Das kennen wir glaube ich alle.“
„Persönlicher möchte ich nicht werden.“
„Sagten Sie nicht, dass Sie Aufrichtigkeit für wesentlich halten?“
„Doch“, sage ich. „Dass ich diesbezüglich nicht persönlicher werden will, ist meine aufrichtige Meinung.“
„Okay. Werden wir konkret. Bei einer Diskussionssendung geht es darum, ganz unterschiedlichen Meinungen eine Plattform zu geben, also auch Leuten, deren Meinung sie nicht teilen, ja, sie geradezu verabscheuen. Haben Sie ein Problem damit?“
„Grundsätzlich nicht.“
„Und im Speziellen?“
„Beim denen, die ich als notorische Lügner, empathielos und menschenverachtend einschätze, habe ich klar ein Problem.“
Sie grinst. „Wenn wir darauf Rücksicht nehmen, können wir die Sendung einstellen. Doch im Ernst: Die Frage