Die Eissphinx. Jules Verne
trennen.
– Solche Prophezeihungen sind unnütz, Hochbootsmann. Zunächst müßte die Witterung so bleiben, wie bisher, und wer lügen will, braucht nur das Wetter vorherzusagen... Das ist ein altes Seemannssprichwort, das man nie vergessen soll!«
Diesmal traf die Vorhersage ein: das Wetter blieb beständig. Am Nachmittage des 18. August meldete die Wache unter 42 Grad 59 Minuten südlicher Breite und 47 Grad östlicher Länge vor Steuerbord die Bergspitzen der Crozetgruppe, deren Gipfel zwischen sechs- bis siebenhundert Toisen (1170 bis 1365 Meter) über das Meer aufsteigen.
Am nächsten Tage ließen wir die, nur während der Fangzeit besuchten Inseln Possession und Schveine an Backbord liegen. Zur Zeit hatten diese als einzige Bewohner nur eine Menge von Vögeln, Heerden von Pinguinen, große Völker von Chionis, die ähnlich wie die Tauben fliegen und von den Walfängern deshalb »White-pigeons« (Weiße Tauben) genannt worden sind. Ueber den phantastischen Schluchten des Crozetberges drängten sich in mächtigen, runzligen Massen die Gletscherströme hinab, und noch einige Stunden lang konnte ich die Umrisse des Berges erkennen. Dann verschwamm alles zu einem weißlichen Scheine, der sich am Horizonte hinzog und über den nur noch die schneebedeckten Gipfel der Gruppe emporragten.
Die Annäherung eines Landes hat immer ein besonderes Interesse. Mir kam da gelegentlich der Gedanke, daß der Kapitän Len Guy jetzt vielleicht das gegen seinen Fahrgast beobachtete Schweigen brechen würde. Er that es aber nicht.
Bewahrheiteten sich die Prophezeihungen des Hochbootsmanns, so konnten kaum drei Tage verstreichen, bis die Bergspitzen der Marion- und der Prinz Eduard-Insel im Nordwesten auftauchten, an denen übrigens nicht angelegt werden sollte. Erst bei Tristan d'Acunha wollte die »Halbrane« ihren Wasservorrath erneuern.
Ich erwartete also, daß die Einförmigkeit unserer Fahrt bis dahin von keinerlei Zwischenfall unterbrochen werden würde. Am Morgen des 20. aber, als Jem West nach der ersten Beobachtung des Stundenwinkels eben die Wache hatte, erschien zu meiner größten Verwunderung der Kapitän Len Guy auf dem Verdeck, ging längs des Deckhauses hin und stellte sich auf dem Hintertheile vor das Compaßhäuschen, dessen Scheibe er – wohl mehr aus Gewohnheit, als weil es jetzt gerade nöthig gewesen wäre – beobachtete.
Ich saß dicht am Hackbord, und wenn ich auch nicht sagen kann, ob der Kapitän mich bemerkt hatte oder nicht, so erregte doch meine Anwesenheit seine Aufmerksamkeit jedenfalls in keiner Weise.
Ich war entschlossen, mich um ihn nicht mehr zu bekümmern, als er es mir gegenüber that, und blieb also ruhig am Barkholz gelehnt.
Der Kapitän Len Guy machte einige Schritte, beugte sich über die Schanzkleidung hinaus und betrachtete den langen seinen Streifen Kielwasser, den die schlank gebaute und schnell dahingleitende Goëlette wie ein Band seiner Spitzen nach sich zog.
Hier konnte man nur von einer einzigen Person gehört werden – von dem Manne am Ruder – jetzt dem Matrosen Stern – der, die Hand an den Griffen des Steuerrades, die »Halbrane« immer in den richtigen Curs zurückbrachte, wenn sie, wie auf hohem Meer häufig, etwas davon abwich.
Immerhin schien es, als ob der Kapitän Len Guy darauf nicht im mindesten achtete, denn plötzlich näherte er sich mir und begann, wie immer mit Flüsterstimme:
»Herr Jeorling... ich hätte etwas mit Ihnen zu sprechen...
– Bitte, Herr Kapitän, ich bin ganz Ohr.
– Bisher that ich es nicht... offen gestanden, ich bin nicht zum Plaudern geschaffen... Und dann... hätten Sie an meiner Unterhaltung Interesse genommen?
– Sie thun Unrecht, daran zu zweifeln, erwiderte ich, Ihre Worte wären für mich gewiß stets hochinteressant gewesen.«
Ich glaube nicht, daß er hierin eine Ironie fand, mindestens verrieth er das nicht.
»Ich bin zu Ihren Diensten,« setzte ich hinzu.
Der Kapitän Len Guy schien zu zaudern, denn seine Haltung zeigte, daß er, auf dem Punkte zu reden, sich wieder fragte, ob er doch nicht besser schwiege.
»Herr Jeorling, nahm er endlich das Wort, haben Sie sich zu ergründen bemüht, warum ich bezüglich Ihrer Einschiffung zuletzt anderen Sinnes wurde?
– Versucht hab' ich's wohl, gelungen ist es mir nicht, Herr Kapitän. Vielleicht meinten Sie als Engländer, da Sie keinen Landsmann vor sich hatten, davon absehen zu können, ihm...
– Nein, nein, Herr Jeorling; gerade weil Sie Amerikaner sind, kam ich zuletzt zu dem anderen Entschlusse, Ihnen die Ueberfahrt auf der »Halbrane« anzubieten.
– Weil ich Amerikaner bin?... versetzte ich, durch dieses Geständniß überrascht.
– Und besonders... weil Sie aus Connecticut sind.
– Ich verstehe Sie nicht...
– Sie werden mich verstehen, wenn ich hinzufüge, daß es meiner Meinung nach, da Sie aus Connecticut sind und die Insel Nantucket besucht haben, möglich war, daß Sie die Familie Arthur Gordon Pym's kennen gelernt hätten.
– Jenes Helden, dessen wunderbare Abenteuer unser großer Romandichter Edgar Poe geschildert hat?
– Derselbe, Herr Jeorling... eine Schilderung, die er nach der Handschrift wiedergegeben hat, worin alle Einzelheiten jener außerordentlichen und unheilvollen Reise durch das Antarktische Meer aufgezeichnet sind!«
Ich fand hierauf keine Antwort und fragte mich heimlich, mit wem ich es hier zu thun habe.
»Sie haben meine Frage gehört, fuhr der Kapitän Len Guy etwas drängender fort.
– Ja... gewiß... Herr Kapitän... ich weiß nur nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe.
– So werd' ich sie in noch klareren Worten wiederholen, Herr Jeorling, denn ich wünsche darauf eine bestimmte Antwort.
– Es wird mich sehr freuen, Sie befriedigen zu können.
– Ich frage also, ob Sie in Connecticut mit der Familie Pym, die auf der Insel Nantucket wohnte und in verwandtschaftlicher Beziehung zu einem der geachtetsten Attorneys des Staates stand, etwa persönlich bekannt waren. Der Vater Arthur Pym's, ein Schiffslieferant, galt für einen der bedeutendsten Händler der Insel. Dessen Sohn nun wurde in die Abenteuer verwickelt, deren seltsame Verkettung Edgar Poe nach mündlicher Ueberlieferung des jungen Mannes geschildert hat.
– Diese Verkettung hätte auch noch seltsamer aus fallen können, Herr Kapitän, da die ganze Erzählung ja der unerschöpflichen Phantasie unseres großen Dichters entsprungen ist. Das ganze ist ja die reine Erfindung...
– Die reine Erfindung!...«
Auf jedes dieser drei Worte legte der Kapitän Len Guy, während er dreimal die Achseln zuckte, einen immer höheren Ton.
»Sie, Herr Jeorling, fuhr er fort, glauben also auch nicht....
– Weder ich noch überhaupt jemand glaubt an eine thatsächliche Unterlage jener Schilderungen, und Sie, Kapitän Guy, sind der erste, von dem ich behaupten höre, daß sie kein Roman seien....
– Hören Sie nur weiter, Herr Jeorling. Wenn jener »Roman« – wie Sie ihn zu bezeichnen lieben – auch erst im letzten Jahre erschien, so ist er doch nicht minder wahr. Sind auch schon elf Jahre seit den darin berichteten Ereignissen verflossen, so beruhen diese doch auf Wahrheit, und man wartet noch immer auf die Lösung eines Räthsels, die vielleicht nie gefunden wird!«
Offenbar war der Kapitän Guy... übergeschnappt und stand unter dem Einflusse einer Krise, die seine geistigen Fähigkeiten verwirrte. Doch wenn er den Verstand verloren hatte, war zum Glück Jem West noch da, ihn in der Führung der Goëlette zu ersetzen. Ich konnte jenem wohl weiter zuhören, und da ich den Roman Edgar Poe's nach wiederholter Durchlesung gründlich kannte, war ich nur neugierig auf das, was der Kapitän darüber sagen würde.
»Ist es denn möglich, Herr Jeorling, nahm er wieder das Wort, diesmal mit schärferer Betonung und einer Stimme, die eine gewisse nervöse Erregung deutlich genug verrieth, daß Sie die Familie