Spur der Vergangenheit. N.K. Wulf
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N.K. Wulf
Spur der Vergangenheit
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Inhaltsverzeichnis
Eins
Dienstag, 24. April, 16 Uhr 51
Er war seinem Ziel ganz nah. Nur noch 343 Stufen, plus 125 weitere, hinauf auf die oberste Plattform des Jübergturmes, trennten Magnus von dem Objekt seiner Begierde. Er hob das Kinn und klappte den Kragen seiner schwarzen Softshell-Jacke weit nach oben. Zwar hatte es aufgehört zu regnen. Aber der Wind wehte immer noch in kräftigen Böen über das ehemalige Gelände der Landesgartenschau 2010 hinweg.
„Dort oben wird es richtig unangenehm werden“, dachte er und ging in Richtung des kleinen Kassenhäuschens. Hinter der großen Glasscheibe saß eine Frau. Er schätzte ihr Alter auf Mitte bis Ende vierzig. Sie hatte braun gefärbtes, kurzes Haar und spielte gelangweilt mit einem Kugelschreiber. Er trat näher heran und sie blickte erstaunt auf.
„Schön, dass sich doch noch jemand traut.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Bei dem Wetter ist nicht viel los, wissen Sie.“
„Gut für mich.“ Er lachte leise und bedachte sie mit einem überaus freundlichen Blick. „Was man den Leuten auch nicht verübeln kann. Der April zeigt sich in diesem Jahr wirklich nicht von seiner besten Seite.“
„Da haben Sie wohl recht. Und? Was treibt Sie dazu? Ich meine, Sie sehen nicht wie der gewöhnliche Naturliebhaber aus.“
„Neugierige, blöde Kuh.“ Dachte er. „Erwischt!“
Er hielt eine Kamera in die Höhe, die er sich eigens für diesen Zweck bei einem Freund geliehen hatte.
„Ich bin Fotograf und benötige für meine neue Homepage noch einige Schnappschüsse. Es spuken bereits einige Ideen in meinem Kopf herum.“ Magnus neigte den Kopf ein wenig, seine tiefblauen Augen weiterhin auf die Kassiererin gerichtet. „Die Wetterverhältnisse sind heute wirklich nicht ideal. Aber wer weiß? Vielleicht ist das Glück gerade deshalb auf meiner Seite.“
In Wirklichkeit hatte er so gut wie keine Ahnung von Fotografie. Er war schon glücklich darüber, den Auslöser gefunden zu haben. Aber das konnte die Alte ja schließlich nicht ahnen. Bald schon würde der Regen erneut einsetzen. Und damit auch die letzten hartgesottenen Besucher aus dem Park vertreiben. Was ihm geradezu in die Karten spielte. Deshalb hatte er genau diesen beschissenen, verregneten Tag für die Übergabe ausgewählt. Niemand würde sich großartig für ihn interessieren. Bis auf diese überaus neugierige Ziege hier. Nach wie vor blickte sie etwas irritiert in den düsteren, wolkenverhangenen Himmel. Und er hoffte inständig, dass seine charmante Art auch bei ihr Wirkung zeigte und sie keine weiteren Fragen mehr stellen würde.
„Ich wünsche Ihnen, dass Sie finden, wonach Sie suchen“, sagte sie schließlich. „Dann bekomme ich drei Euro fünfzig. Und bitte denken Sie daran, der Park schließt bei Einbruch der Dunkelheit.“
„Oh, keine Sorge. Ich brauche nicht sehr lang“, antwortete er, legte das Geld in die Schale und ging durch das Drehkreuz.
Magnus blickte auf. Der Turm ragte nun direkt vor ihm in die Höhe und er merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er spürte die Blicke der Frau in seinem Nacken und damit sie ihm die Nummer mit dem Fotografen abkaufte, schoss er wahllos ein paar Bilder von der Umgebung, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Vorbei an dem Grohe-Forum, in dem schon einige namhafte Künstler aufgetreten waren. Weiter entlang der Schaugärten, die ihn allerdings herzlich wenig interessierten. Zu guter Letzt erreichte er die Stufen zum Aufstieg. Er hätte auch den weniger beschwerlichen Weg außen herum nehmen können, aber das hätte ihn zu viel Zeit gekostet. Die Aufregung stieg mit jedem geschafften Meter. Er war gut in Form, deshalb erreichte er den Sockel des fächerartig aufgebauten Holzturmes relativ schnell. Sein Puls raste, was nicht zuletzt auch an der Anstrengung lag.
„Was für eine Schinderei. Aber es wird sich für dich auszahlen, mein Lieber.“ Er holte noch einmal tief Luft und machte sich daran, die letzten 125 Stufen in Angriff zu nehmen.
Wenige Augenblicke später hatte er es geschafft. Der Wind peitschte ihm hier oben direkt ins Gesicht und er hörte das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Nur für einen Augenblick erlaubte er sich eine Pause und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen.
Die Aussicht war wirklich grandios und wie mochte es wohl erst bei schönem Wetter sein. Er beschloss, genau das herauszufinden und noch einmal wiederzukommen, wenn der Job erledigt war und sich die Wogen geglättet hatten. Augenblicklich konzentrierte er sich wieder auf das Wesentliche und suchte den äußeren Bereich der Holzkonstruktion ab, bis er fand, wonach er sich den ganzen Tag gesehnt hatte. Ein brauner Umschlag, in Folie verpackt und mit mehreren Lagen Klebeband an einem Holzbalken befestigt.
Noch einmal schaute er über seine Schulter, um sich zu vergewissern, wirklich allein hier oben zu sein. Keine Menschenseele weit und breit. Er zog ein Messer aus seiner Innentasche und löste das Paket vom Balken. Vor Erregung schlug sein Herz wilde Kapriolen und er hätte den Umschlag am liebsten sofort geöffnet. Aber es war zu gefährlich. Bei dem Wind konnte schnell etwas von dem Inhalt verloren gehen, etwas, von dem er sich ganz bestimmt nicht mehr so schnell trennen wollte. Er öffnete den Verschluss seines Rucksackes und legte den Umschlag hinein.
Der Regen hatte langsam wieder eingesetzt und Magnus beschloss, diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen.