Spur der Vergangenheit. N.K. Wulf
Eigentlich hatte sie sich so viel vorgenommen, wollte die Wohnung komplett verändern. Aber wie so oft brachte sie es nicht übers Herz, auch die letzte Erinnerung an ihren verstorbenen Verlobten zu beseitigen.
Ein sanfter Kopfstoß der Katze riss sie aus ihren Gedanken und Chris erinnerte sich wieder daran, was sie eigentlich gerade vorhatte. Nik hatte heute Geburtstag und sie wollte es sich auch in diesem Jahr nicht nehmen lassen, ihn mit einem selbstgebackenen Kuchen zu überraschen. Für sie war er einer der letzten verbliebenden Menschen, die ihr wirklich etwas bedeuteten. Abgesehen natürlich von Anni, ihrer besten Freundin, und Maximilian, seinem Sohn. Schon früh hatte sich der Tierarzt ihrer angenommen und Gott weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte es diesen Mann nicht gegeben.
Deshalb hatte sie sich auch in diesem Jahr die Mühe gemacht, den Kuchen nach Tante Hannas Rezept zu backen. Sie wusste, wie sehr er ihn mochte. Chris straffte sich und ging zurück in die Küche, um den Korb zu holen. Sie überprüfte noch kurz, ob auch alles gut verpackt war, und verließ die Wohnung.
Bereits zehn Minuten später bog der rote Kleinwagen von der langen Zufahrt auf den großen geschotterten Parkplatz vor der Kleintierpraxis ein. Nahezu alle Stellplätze waren besetzt, doch Chris erspähte noch eine freie Stelle direkt neben einem Monster von einem Auto. Einem silberfarbenen Dodge RAM. Zwei parallel laufende, mattschwarze Streifen zierten die Motorhaube und ließen den Wagen noch bulliger erscheinen.
„Dagegen wirkt meiner wie das reinste Spielzeugauto“, dachte sie und parkte ein. Sie stellte den Motor ab, stieg aus und ging zum Kofferraum, als ihr das Kennzeichen des Ungetüms ins Auge fiel. Sie stieß einen leisen Pfiff aus, denn anhand der Buchstaben und Ziffern konnte es sich nur um Niks neuen Truck handeln.
„Nette Kiste, Dr. Berger.“ Sie schnalzte mit der Zunge und ging zum Praxiseingang.
Die Tür stand offen und Chris schlug lautes Hundegebell entgegen. Sie hatte bereits einige Fahrzeuge auf dem Parkplatz wiedererkannt und wusste, dass der hiesige Golden Retriever Club anwesend war.
Das bedeutete Großkampftag für alle Beteiligten. Das Erstellen und Auswerten der Röntgenbilder von Hüfte und Ellbogen der jungen Hunde nahm immer sehr viel Zeit in Anspruch. Für die Züchter ging es um viel. Wurden ihre großen Erwartungen bestätigt oder mussten sie Hunde von der Zucht ausschließen? Chris nahm sich vor, nicht lange zu stören, und ging in Richtung der Anmeldung. Eine dunkelhaarige, konzentriert dreinblickende junge Frau saß dahinter und war gerade damit beschäftigt, einzelne Laborergebnisse in den Computer einzutragen. Sie blickte auf und als sie Chris erkannte, machte sich ein Grinsen in ihrem Gesicht breit, das ein kleines Piercing in der Oberlippe zum Glitzern brachte.
„Sonnenschein!! Was machst du denn hier? Was machen die Malerarbeiten?“
Chris hielt ihr den Korb entgegen und lächelte sie an.
„Nervennahrung. Ich sehe schon, was hier los ist, deshalb will ich nur schnell gratulieren und bin dann auch schon wieder verschwunden.“
„Kuchen! Damit retten Sie mir den Vormittag, Frau Bachmann.“
„Das dachte ich mir. Waren wir heute Morgen mal wieder spät dran?“
„Kennst mich doch! Ich schlafe halt gerne.“
„Klar, das wird sich wohl auch nie ändern, oder?“
Was wohl der Wahrheit entsprach. Bereits in der Berufsschule hatte Anni immer eine Notfallreserve in ihrem Rucksack, um das aufkommende Hungergefühl im Unterricht bekämpfen zu können. Entspannte Frühstückszeiten waren halt nie so ihr Ding. Chris hatte sich immer schon gewundert, wie man es schaffen konnte, bei dem Schokoladen-Konsum eine solche Figur beizubehalten. Anni hatte ihre veterinärmedizinische Karriere in einer Praxis im Ruhrgebiet gestartet und die ersten Jahre auch dort gearbeitet, bevor sie vor gut zwei Jahren bei Dr. Berger gelandet war. Das war kurz nach Tobias‘ tödlichem Unfall gewesen. Chris hatte eine sehr lange Auszeit gebraucht und hatte es bis heute nicht geschafft, ihre Vollzeitstelle hier wieder aufzunehmen. In der Acrylmalerei fand sie die innere Ruhe, die sie benötigte, um wieder einigermaßen mit dem Leben klarzukommen. Und sie war gar nicht schlecht darin. Von dem Verkauf einiger Bilder und den wenigen Stunden, die sie in der Praxis aushalf, konnte sie sich gut über Wasser halten. Auch hier hingen einige ihrer Werke, für die Sarami posierte, an den Wänden. Und auch auf Annis Unterstützung und Hilfe konnte sie sich von Anfang an verlassen und so wurden die beiden im Laufe der Zeit zu besten Freundinnen.
„Aber Spaß beiseite. Wenn du noch etwas Zeit hast, dann bleib doch. Wir könnten dann gemeinsam einen Kaffee trinken. So lang wird es wohl nicht mehr dauern“, riss Anni sie aus den Gedanken, als in diesem Augenblick ein Retriever an ihnen vorbeihastete, seinen Besitzer im Schlepptau. Das Tier hatte eindeutig genug von diesen Räumlichkeiten und stürmte forsch nach vorne, um an die frische Luft zu gelangen.
„Bis nächste Woche, Frau Winter“, verabschiedete sich der Mann hastig und war auch schon verschwunden.
„Siehst du. Wir sind heute von der schnellen Truppe“, bemerkte Anni beiläufig, als plötzlich eine tiefe Stimme durch den Flur donnerte.
„Anni! Sind die beiden letzten Aufnahmen von Dorian und Doolittle schon entwickelt?“
„Ja, Chef! Entwickelt und bereits auf Ihrem Server.“
„Und wann genau wolltest du mir das mitteilen?“
„Ähm …, also eigentlich direkt, nachdem ich Ihnen Herrn Richter in Behandlung Zwei geschickt und noch bevor ich das Rezept für Frau Becker geschrieben hätte.“
„Sehr witzig, Anni.“ Eine Tür wurde wieder zugestoßen.
Anni stützte ihren Kopf auf dem linken Arm ab und grinste Chris in ihrer typisch lockeren Art an.
„Was ist denn mit dem los?“
„Oh. Das geht schon den ganzen Tag so. Prinz Charming himself.“
„Und gibt es einen Grund für seine schlechte Laune?“
Anni schnaubte verächtlich. „Derselbe wie immer. Er hat dunkelbraune, lange Haare und ist mit ihm verheiratet.“
„Aha. Daher weht der Wind. Sag mal, wo steckt eigentlich Julia?“
„Die ist mit Patrick beim alten Pröpper und …“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Parkplatz, als ein alter, schwarzer Range Rover mit Vollbremsung vor der Tür zum Stehen kam.
„… wenn man vom Teufel spricht“, vollendete sie den Satz.
Quietschend öffnete sich die Wagentür und begleitet von fluchenden Schimpfwörtern stieg der junge Assistenzarzt aus. Mit voller Wucht knallte er die Autotür zu, hastete in den Flur und nickte den beiden kurz zu.
„Also ehrlich, Anni. Nik muss sich wirklich langsam mal um die Bremsen kümmern. Das Ding ist lebensgefährlich!!“
„Und trotzdem hast du überlebt. Patrick, du bist mein persönlicher Held“, spottete sie, denn sie wusste, dass er unter Stress gerne mal zu Übertreibungen neigte, weshalb sie ihn nie wirklich ernst nehmen konnte. Wobei sie für seine heutige schlechte Laune durchaus Verständnis zeigte.
Bereits in der Früh hatte es eine Auseinandersetzung zwischen ihm und ihrem Chef gegeben. Es ging wie immer um dasselbe. Patrick wollte mehr Verantwortung und damit eigenständiger arbeiten. Und Nik kümmerte sich am liebsten um alles selbst. Es lag nicht daran, dass er kein Vertrauen zu seinem Assistenzarzt besaß. Vielmehr konnte Nik einfach nicht loslassen. Das hier war sein Baby, über das er niemals die Kontrolle, wenn auch nur ansatzweise, abgeben konnte. Dazu kam, dass Nik im Augenblick schwere Zeiten durchlebte, was allen Anwesenden bewusst war.
Aber heute Morgen war er einfach zu weit gegangen. Patrick gegenüber hatte er einzelne Bemerkungen fallen lassen, die ihn zutiefst gekränkt hatten. Diesmal würde es noch einige Stunden brauchen, bis sich die Wogen wieder geglättet hätten.
„Sag mal, hast du nicht was vergessen?“, fragte Anni, und Patrick musterte sie mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck.
„Falls du Julia meinst, die