Lazarus. Christian Otte
unweigerlich lächeln. Noch vor wenigen Tagen hätte er an der Stelle der anderen Fahrer genauso reagiert. Damals hätte er aber auch nicht ein solch waghalsiges Manöver gefahren. Aber das alles schien Ewigkeiten her zu sein. Es war nicht nur ein anderer Tag, sondern ein anderes Leben. Jetzt fühlte es sich alles so viel intensiver an. Klang intensiver. Roch intensiver. Schmeckte es auch intensiver? Das galt es noch herauszufinden. Dass er keinen Hunger verspürte schob er auf das Adrenalin, das ihm diese Fahrt durch die Adern spülte. Hatte der alte Mann darüber etwas gesagt? Vielleicht hätte er ihm besser zuhören sollen, als sie sich gegenüberstanden. Aber so ein Geschenk bekommt man nicht alle Tage.
Schon als Kind unterm Weihnachtsbaum konnte Marc nicht erwarten seine Geschenke auszupacken. Sein Vater hatte ihm einmal eine Modelleisenbahn gekauft. Zwar wurde ihm erzählt, sie käme vom Weihnachtsmann, aber er wusste es besser. Er hatte seinen Vater mit dem großen Paket eine Woche zuvor auf dem Hof aussteigen sehen. Vater wollte ihm sagen, dass er vorsichtig sein sollte, weil es ein teures Spielzeug war, aber er hörte nicht zu. Er war zu aufgeregt und wollte gleich los spielen. So war es dieses Mal auch. Nur viel besser.
Das Motorrad kam ins Schlingern, als Marc durch eine Pfütze fuhr. Er fing die Maschine wieder ab, und im selben Moment kam ihm ein Gedanke. Es war Zeit. Zeit, die eigenen Grenzen kennen zu lernen. Marc wusste, wo der beste Platz dafür war. Er überlegte kurz welchen Weg er nehmen sollte, dann fuhr er mit seiner Maschine von der Autobahn ab.
Nach wenigen Minuten erreichte er die Schnellstraße, drehte den Gashebel bis zum Anschlag und fuhr in einem Zug über alle 3 Spuren. Hier war deutlich mehr Verkehr als er um diese Zeit erwartet hatte.
Marc überholte rechts, schnitt mehrfach Fahrzeuge beim Spurwechsel und freute sich über die Verärgerung der anderen Fahrer. Am Ende der Strecke wendete er auf einer Kreuzung und fuhr in Gegenrichtung weiter. Sechsmal wendete er und fuhr wieder zurück. Als er merkte, dass er Hunger hatte, war es ihm auch schon langweilig geworden. Ja, dachte er, ich habe definitiv Hunger. Auch sein Durst wurde langsam unangenehm. Marc wusste zwar nicht viel über das, was ihn noch erwartete, aber er war sich ziemlich sicher, was er nun zu tun hatte. Aber vielleicht war es doch besser, wenn er sich doch noch mal in Erinnerung rief, was der alte Mann ihm erzählt hatte.
Vor etwa einem Monat hatte ihn der alte Mann in seiner Stammkneipe angesprochen. Hätte Marc zu dem Zeitpunkt nicht aus Frust bereits sein fünftes Pils getrunken, wäre er ihm vielleicht merkwürdig vorgekommen. Der alte Mann passte nicht in die Kneipe. Sein Anzug sah eher nach feinem Restaurant oder Zigarren-Club aus. Seine ganze Erscheinung sagte, dass er – im Gegensatz zu den anderen Gästen – Geld hatte. Er sprach mit Marc in einem Tonfall, der ihm das Gefühl gab als wären sie alte Freunde. Marc konnte sich nicht erinnern, wie lange oder worüber sie genau sprachen. Er hatte nicht einmal mitbekommen, wie oder wohin der alte Mann verschwunden war. Hätte er die Bedienung hinter der Theke oder einen der anderen Gäste gefragt, hätte er keine Antwort erhalten. Den meisten in der Kneipe war es sowieso egal, wer sich noch darin aufhielt. Aber diesmal hatte wirklich niemand den alten Mann gesehen.
Am nächsten Tag fand Marc die Visitenkarte des alten Mannes auf seinem Couchtisch. Er wusste nicht, ob er sich wirklich mit ihm verabredet hatte. Aber er kam auch nicht auf die Idee den auf der Rückseite vermerkten Termin abzusagen oder zu ignorieren. Irgendetwas drängte ihn förmlich dazu.
Noch am selben Abend traf er den alten Mann in dessen Büro, das in einem Komplex mit mehreren Hundert anderen Büros lag. Der Alte wiederholte sein Angebot und erklärte Marc, was für Möglichkeiten und Verpflichtungen daraus erwuchsen. Es dauerte nicht lange, bis sich Marc entschlossen hatte, das Angebot anzunehmen. Dafür war es einfach zu gut.
Marc überlegte krampfhaft was die Anweisungen des Alten alles beinhalteten. Er hätte sie sich schriftlich geben lassen sollen oder wenigstens genauer zuhören müssen. Nun versuchte er sich zu erinnern, während er weiterhin mit Höchstgeschwindigkeit zurück, Richtung Autobahn raste. In seine Überlegungen vertieft übersah er die Bremslichter des Autos vor ihm. Im letzten Moment erkannte er, dass sich der Abstand gefährlich schnell verringerte. Er riss die Maschine instinktiv nach rechts. Bei seinem Versuch eine Kollision zu vermeiden stieß er gegen die Seite eines Fahrzeuges auf der Mittelspur. Die Maschine prallte ab, streifte den vorausfahrenden Wagen und begann zu taumeln. Er versuchte mit aller Gewalt die Kontrolle zurück zu gewinnen, doch es gelang ihm nicht. Die Kollision und das Wasser auf der Straße waren zu viel für die Reifen. Die Maschine mit ihm darauf stürzte und rutschte auf der regennassen Fahrbahn weiter. Er hörte das Knacken der Knochen in seinem Arm und seinem Becken, noch bevor der Schmerz einsetzte. Durch das Visier und den Regen hindurch konnte er sehen, dass das Motorrad, nun ohne ihn, weiter in eine Leitplanke krachte. Er spürte, wie sich am Asphalt seine Kleidung aufrieb, dann Haut, dann Fleisch. Er schmeckte wie sich Blut in seinem Mund sammelte, während seine Bewegung zu einem Ende kam.
Einem Impuls folgend hatte er die Augen geschlossen, nachdem er das Motorrad mit der Leitplanke kollidieren sah. Nun schoss ihm seine innere Stimme durch den Kopf, die ihn aufforderte seinen schmerzenden Körper zu ignorieren, die Augen zu öffnen und schnell von der Straße zu kommen. Als er die Augen öffnete, sah er das Profil der Reifen des Lastwagens, dessen Fahrer auf der nassen Fahrbahn nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.
2
Schwester Bianca sah von den vor ihr liegenden Unterlagen auf. Der größere der beiden Männer, die vor Ihrem Tresen standen, wiederholte seine Frage.
„Wo finden wir Doktor Hansen?“
„Einen Augenblick, ich werde ihn holen“, erwiderte Bianca und griff zum Hörer. Sie tippte die Nummer von Doktor Hansens Telefon. Während es klingelte musterte sie die beiden Besucher. Der Größere war muskulös, hatte markante Gesichtszüge und einen 3-Tage-Bart. In dem dunklen Anzug und mit seinen kurz geschorenen Haaren erinnerte er sie sehr an einen Türsteher. Aber dass er eine Brille mit abgedunkelten Gläsern in einem Gebäude trug fand sie übertrieben. Der kleinere von beiden sah aus wie eine jüngere Kopie seines Partners. Mit weicheren Gesichtszügen, weniger Muskeln und längeren Haaren, aber eine Ähnlichkeit war eindeutig zu erkennen.
„Hallo, hier sind zwei Herren für Sie auf Station 7 und sie ...“
„Ich bin sofort da.“
Dass der Doktor so schnell aufgelegt hatte war untypisch, aber in Krankenhäusern gab es immer etwas, das wichtiger war als zu telefonieren.
„Er wird gleich da sein. Setzen Sie sich doch!“, sagte sie und deutete auf ein paar zusammenstehende Stühle an der Wand.
Der größere Mann bedankte sich, aber Bianca konnte trotz seiner oberflächlichen Höflichkeit an seiner Stimme hören, dass er gereizt war. Und warum trug er innerhalb eines Gebäudes eine Sonnenbrille?
Der Besucher wandte sich zu dem kleineren Mann um, der sich auf einen der Stühle gesetzt hatte, ging auf ihn zu und blieb stehen.
„Wenn es stimmt, was Hansen vermutet ist die Kacke echt am Dampfen.“
„Aber es wird nicht besser, wenn du dich darüber aufregst. Setzt dich doch erst“, antwortete der Kleinere und tätschelte den Sitz neben sich.
„Ich habe eben lange genug gesessen.“
„Beruhige dich, du weißt, dass es nicht gut ist, wenn du dich so aufregst.“
Bevor der größere noch etwas erwidern konnte, wurde er von einem kleinen, schmalen Mann in Arztkittel unterbrochen.
„Sie sind von der Zentrale? “
„Ja, das sind wir. Doktor Hansen nehme ich an?“, sagte der Große und schüttelte die ihm entgegen gestreckte Hand.
„Richtig, folgen Sie mir.“
Das taten die beiden Männer auch. Um eine Ecke, ein Stück den Flur herunter, mit dem Fahrstuhl nach unten und einen langen Gang entlang.
Der Arzt öffnete die Tür zu einem gekachelten Raum und schaltete das Licht an. Der große Mann betrat den Raum, währen der kleinere vor der Tür stehen blieb.
„Kommst