Elena. Eckhard Lange
der Dunkelheit hinter seinen verschlossenen Augen traten langsam die drei Frauen heraus: schöne Frauen, attraktive Frauen. Da war er sich sicher. Doch warum waren sie erschienen? Was wollten sie von ihm? Verzweifelt versuchte er, die Bilder festzuhalten, sich an ihre Worte zu erinnern. Aber die Gestalten verblassten ebenso schnell, wie sie zurückgekehrt waren, und je mehr er sie speichern wollte, desto schneller kehrten sie in das Nichts des Unterbewusstseins zurück.
„Blöder Traum!“ sagte er halblaut vor sich hin und suchte nach seinen Schuhen, die unter das Bett gerutscht waren. Ja, es war gelegentlich vorgekommen, daß ihm Frauen im Traum erschienen waren. Keine bestimmten, sondern eher Bilder unerfüllter Wünsche, das wusste er durchaus zu analysieren. Die meisten seiner ehemaligen Kommilitonen waren längst verheiratet, hatten bereits im Studium eine feste Beziehung und manchmal auch schon Kinder. Doch er selbst war über ein paar oberflächliche Flirts nie hinausgekommen. Dabei war er durchaus nicht unattraktiv. Er betrachtete sich in dem hohen Spiegel, der eine Tür des Schlafzimmerschrankes ausfüllte:
Mittelgroß und schlank, mit einem muskulösen Körper und ungewöhnlich schmalen, fast zarten Händen. Daran hat es bestimmt nicht gelegen, daß ihn die Mädchen nicht anziehend finden würden. Und der wuschelige, dunkelblonde Haarschopf umrahmte ein längliches Gesicht mit nur wenig hervorstehenden Wangenknochen, einer sehr geraden und keineswegs überlangen Nase, einem fast weiblichen Mund. Er hatte durchaus gemerkt, wie ihn in den Zeiten, die er zu Ausbildungszwecken in einer ländlichen Gemeinde tätig war, die Konfirmandinnen angehimmelt hatten. Es hatte ihm geschmeichelt, sicherlich.
Aber eine einzige junge Frau, zu der er sich hingezogen fühlen könnte, war ihm die ganze Zeit nicht begegnet, und die Vikarinnen, denen er in den Seminaren begegnete, waren alle schon vergeben. Nie hatte er sich mehr als ein paar harmlose, scherzhafte Anzüglichkeiten erlaubt, auch da, wo er gerne eine tiefere Beziehung aufgebaut hätte. Doch das verbot sich schon durch den Beruf, den beide gewählt hatten: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!
Er verzog den Mund gegenüber seinem Spiegelbild. Vielleicht hatte er seine Chancen bereits verpasst, während der langen Jahre an der Uni. Jetzt war er plötzlich Amtsperson, und auch wenn alle Welt erwartete, daß der Pastor auch Ehemann und Familienvater war – wie und zu wem sollte sich in seiner Gemeinde eine Beziehung entwickeln! Wer so unter Beobachtung steht wie der neue Pfarrer, hatte kaum die Gelegenheit, sich einen Freiraum offen zu halten, und wo gab es schon ein Jenseits zu seiner Gemeinde?
„Mach deine Arbeit, Patrick, und überlaß dein Privatleben der Zukunft,“ sagte er laut zum Spiegel hin. Warum hatte er „Zukunft“ gesagt – und nicht „Gott“, wie es sich für einen Theologen doch gehörte? Er streckte seinem Gegenüber die Zunge aus und wandte sich ab. Den Traum hatte er nun endgültig vergessen. Doch er sollte sich wiederholen, und irgendwie sollte er sein Leben verändern, die Zukunft von Patrick Troy, Pfarrer von Sankt Lukas, bestimmen. Aber das wusste er an diesem Morgen noch nicht.
Der junge Pastor blickte auf die Uhr: „Was, schon halb neun? Ich sollte mich endlich unten sehen lassen!“ Er hatte sich angewöhnt, halblaut mit sich selber zu sprechen, wenn er allein war. Das durchbrach für kurze Zeit die Stille, die ihn sonst umgab, denn er haßte es, irgendwo einfach Musik als Hintergrundgeräusch laufen zu lassen. Patrik ging ins Bad, machte sich zurecht, streifte die graue Tuchhose mit Gummizug und ein ebenso graues T-Shirt über, griff sich ein Brötchen vom Küchentisch, das er schon am Vorabend dort deponiert hatte, spülte die Bissen mit einigen Schlucken Mineralwasser hinunter – einen Kaffee würde er von der fürsorglichen Sekretärin wie stets an den Bürotagen sowieso noch erhalten – und ging über den offenen Vorplatz zu der geschwungenen Treppe, die ins Erdgeschoß führte.
Seine Wohnung lag im oberen Stockwerk des Pfarrhauses, eines protzigen Ziegelbaus von 1895, der einst für die gut bürgerlichen Pfarrfamilien mit einem Dutzend Kindern und Hausmädchen gedacht war. Später hatte der Kirchenrat die vielen Schlafräume oben zu einer Vierzimmerwohnung mit Küche und Bad umgebaut, ohne sie doch vom übrigen Haus wirklich abzutrennen, in zwei weiteren Räumen das Archiv untergebracht und unten, zu beiden Seiten der großen hohen Diele links Büro und das Dienstzimmer des Pastors und rechts einen größeren Raum für Veranstaltungen geschaffen. Allein die Diele mit Stuckdecke und der schönen Holztreppe mit ihrem gedrechselten Geländer ließen noch den einstigen Charme des Hauses erkennen.
Patrick war ins Büro eingetreten, das wie ein Puffer zwischen Diele und seinem Arbeitszimmer lag und von Gisela Grabert bewacht wurde, der Gemeindesekretärin, nun schon seit 25 Jahren dienstbarer Geist für bereits mehrere Vorgänger. Sie wusste inzwischen weit mehr über deren Schäfchen als ihre Hirten, aber niemals würde sie ihr Wissen ungefragt ins Spiel bringen. Patrick hatte sie sofort ins Herz geschlossen und bat sie häufig um ihre Meinung oder doch um Auskünfte, was sie erfreut zur Kenntnis nahm und mit gleicher, allerdings eher mütterlicher, Zuneigung erwiderte.
„Moin, Frau Grabert,“ grüßte er und blieb wie jeden Morgen erst einmal neben ihrem Schreibtisch stehen, um sich nach den Neuigkeiten des Tages zu erkundigen. Auch wenn in seinem Amtszimmer ein großer Terminplaner mit allen wichtigen Daten hing, ihrem Gedächtnis traute er mehr als den eigenen Einträgen.
„Kaffee?“ fragte sie und goß einen großen Becher voll, ohne die Antwort abzuwarten. Und während er langsam das schwarze Gebräu schlürfte, erinnerte sie den jungen Pastor an zwei wichtige Geburtstage und den noch ausstehenden Brief an die kirchliche Bauverwaltung. Patrick nickte und schaute dankbar auf die beiden Blumensträuße, die Gisela Grabert für die beiden Besuche schon bereitgestellt hatte. „Sie sind ein Schatz,“ lächelte er sie an und verschwand dann hinter der Tür zum nächsten Raum.
Eine Weile brütete er nun schon über diesem Schreiben für das Bauamt, als Frau Grabert noch einmal den Kopf durch die Tür steckte: „Sie denken daran, daß Ihre Eltern morgen Hochzeitstag haben?“ fragte sie. Patrick blickte erstaunt auf: „Mein Gott, das stimmt ja. Aber,“ er schaute sie fragend an, „woher wissen Sie denn das nun schon wieder? Ihnen scheint auch wirklich nichts verborgen zu sein.“ Und damit das nicht als Vorwurf verstanden werden konnte, lächelte er sie an: „Der liebe Gott scheint nicht der einzige zu sein, der allwissend ist.“
Die Sekretärin hob abwehrend die Hand: „Ganz einfach: Ihre Schwester hat angerufen und mich gebeten, Sie daran zu erinnern.“ „Typisch Sandra!“ Der junge Pastor verdrehte die Augen. „Sie traut mir auch überhaupt nichts zu!“ Er schlug sich mit der Hand auf die Brust: „Und das Schlimme ist: Sie hat recht. Diesmal jedenfalls. Ich hätte es tatsächlich vergessen. Mea culpa, mea maxima culpa.“
Das letzte verstand Gisela Grabert nicht, aber sie wagte auch nicht, danach zu fragen. Schließlich war er der Pastor und sie saß nur im Büro. „Sagen Sie doch einfach, ich hätte Sie gar nicht erinnert, Sie hätten es selber gewusst,“ schlug sie vor. „Notlügen erlaubt der liebe Gott doch bestimmt, nicht wahr? Damit Ihre Eltern nicht traurig sind.“ Sie ist wirklich ein Schatz, dachte Patrick, aber er wiederholte den Satz nicht laut.
2.
Patrick hatte seinen Wagen vor dem Haus seiner Eltern geparkt, den Blumenstrauß ausgewickelt und stand nun vor der Tür. Noch ehe er den Klingelknopf auch nur berührt hatte, öffnete Sandra und grinste ihn an: „Na, hat sie es dir gesteckt?“ Patrick log nicht gern, schon gar nicht, wenn er seine Sekretärin damit in ein schlechtes Licht rücken würde. Also sagte er: „Frau Grabert ist perfekt. Natürlich hat sie mich auf den Termin hingewiesen, aber ich hätte mich sowieso daran erinnert.“ Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber eigentlich auch nicht ganz gelogen, vielleicht wäre es ihm ja wirklich noch eingefallen. Es kam eben darauf an, wie Sandra das „hätte“ verstehen würde. Aber sie lachte nur und zog ihn ins Haus. „Viktor ist auch schon da mit seinem Anhang,“ verkündete sie. „Die Eltern sind im Wohnzimmer, geh nur hinein und mach deine Aufwartung, Herr Pfarrer!“
Sandra war jetzt Anfang dreißig, ehelos wie ihr kleiner Bruder, aber dafür erfolgreich praktizierende Psychologin hier in Eutin. Es war bestimmt nicht mangelnde Gelegenheit, daß sie ohne Partner in ihrer kleinen Wohnung ganz in der Nähe der Eltern lebte, es war eher ihr unbestechlicher Blick für die Schwächen und negativen Eigenschaften anderer Menschen, der ihr stets abriet, sich