Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich

Preis des aufrechten Gangs - Prodosh Aich


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immer wieder. Bei der Nachbestellung könnte eigentlich auf die PAs verzichtet werden. Was sollen aber diese Würdenträger auch tun, wenn die PAs stets in Sichtweite auf Zeichen warten! Man kann ja auch den PAs nicht vor den Kopf stoßen oder ihr ehrfürchtiges Warten als überflüssiges Herumstehen hinstellen.

      Die PAs sind richtig europäisch angezogen. Die Würdenträger ziehen sich auch europäisch an, wenn sie das Gästehaus verlassen. Aber nicht im Speisesaal. Beim Speisen sind sie leger angezogen. Häufig baumeln ihre Beine nicht vom Stuhl. Sie sitzen auf dem Stuhl im Schneidersitz. Was soll daran falsch sein? Die Frage stellen wir aber nicht. Denn meine Frau ist ja eine Deutsche. Und ich bin lange genug in Deutschland „zivilisiert“ worden. Und dann die diversen Geräusche beim und nach dem Essen! All dies verpaßt meiner Frau doch einen leichten Kulturschock. Sie ist innerlich empört. Eigentlich ungerechterweise. In Europa geschieht ähnliches auch. Nur etwas besser durchorganisiert, professionell eben!

      Alle sind uns gegenüber höflich und auch aufgeschlossen. Manchmal geht es auch über die „small talks“ hinaus. Sie hören sich geduldig unsere Meinungen und Kritiken an. Keine Diskussionen. Übereinstimmungen und unterschiedliche Einschätzungen. Zu der Zeit werden in Indien zwei bemerkenswerte Sachbücher viel diskutiert. V. S. Naipaul, der „amerikanische“ Schriftsteller indischer Herkunft, besucht zum ersten Mal das Land seiner Vorväter, voller Neugier, geweckt durch die Erzählungen seiner Großmutter. Er steht die Wirklichkeit nicht durch, er ist geschockt, flüchtet aus dem Land und schreibt das Buch „Area of Darkness“. Der Titel ist auch Programm. Er findet überall nur „Traditionalität“, das Gegenteil von Modernität. Was immer die „Modernität“ auch sein mag. Die internationalen „Bildungsbürger“ sind einig darüber, daß „Entwicklungsländer“ rückständig sind, aber Fortschritt erzielen müssen über Entwicklungen, vorwiegend über die wirtschaftlichen. Und diese Entwicklungen wäre eben der Übergang von Traditionalität zur Modernität, Übergang von einer niedrigeren Phase der Entwicklung zu einer höheren. Naipaul hat dafür keine Anzeichen entdecken können, keine Ansätze gefunden. Er ist „zivilisiert“ worden in der „amerikanischen“ Gesellschaft.

      Der andere Autor, Nirad C. Chaudhuri, ist im Gegensatz zu Naipaul in Indien aufgewachsen und ausgebildet, aber ein Bewunderer der britischen Kultur. Er erhält – wenn auch ziemlich spät – ein ansehnliches Forschungsstipendium aus Großbritannien und dort Zugang zu vielen exklusiven Archiven. Er reflektiert die Geschichte seines Landes, die koloniale Vergangenheit und natürlich den gegenwärtigen Zustand seines Landes und verfaßt das Buch „Autobiography of An Unknown Indian“. Auch er sieht Dunkles, nicht nur eine Region im Dunkeln, aber er flüchtet nicht. Wohin auch? Er beschreibt engagiert das Übel. Seine „halbgebildeten“ Landsleute ruinierten das Land – Bürokraten, Politiker, Wissenschaftler, weil sie weder traditionell noch modern, sondern eigentlich „nichts“ seien. Sie trügen unter der europäischen Hose doch noch das indische „Lendentuch".

      Auf diese Art von Ungereimtheiten können wir uns in Diskussionen im Speisesaal einigen. Was sie über uns denken und was sie über uns später erzählen, haben wir nicht erfahren. Aber ich erzähle eine kurze Geschichte, eine beispielhafte wie ich meine, die unsere Einschätzung der dort erlebten Situation plastisch wiedergibt.

      Wir sitzen bereits am Mittagstisch. Ein gutgekleideter Herr kommt herein, eben nicht leger gekleidet, ohne einen PA zwei Meter hinter sich, schaut im Saal herum, taxiert die Gäste, schreitet zu unserem Tisch und fragt formvollendet, ob er an unserem Tisch Platz nehmen darf. Natürlich darf er. Er stellt sich vor, wir uns auch. Eine normale Situation. Er ist Direktor eines Universitätsinstituts für „Business Management“. Er ist verabredet mit dem Vice Chancellor der Universität Rajasthan, der, wie schon berichtet, ein Nationalökonom ist. Wir tauschen unsere Meinungen aus. Themen: Modernität, Fortschritt, wirtschaftliche Entwicklung, was sonst? Auch er hat Auslandserfahrung. Ein „moderner“ Mensch also.

      Nach dem Mittagessen trinken wir Kaffee. Plötzlich will er wissen, wie spät es schon ist. Auch er hat eine Armbanduhr. Ich sage ihm die Zeit nach meiner Uhr, wenige Minuten vor 14 Uhr. Er schaut nun auf seine Uhr. Seine Uhr geht genauso wie meine Uhr, zeigt dieselbe Uhrzeit. Er ist ernsthaft beunruhigt. Denn sein Termin ist um 14 Uhr. Der Vice Chancellor hat ihm versprochen, rechtzeitig einen Dienstwagen zu schicken. Der Wagen ist immer noch nicht da. Ich erkundige mich, ob der Termin in dem Büro des Vice Chancellors oder in seiner Residenz ist. Der Termin ist in der Residenz. Ich bedeute ihm, daß der Fußweg vom Gästehaus bis zu seiner Residenz nur etwa eine Minute lang ist. Mit dem Wagen mindestens 10 Autominuten. Wir würden so lange in der Empfangshalle warten, falls der Wagen doch noch kommt. Wir können auch telefonieren und Bescheid sagen, daß er schon zu Fuß unterwegs ist. Nein, er ist nicht damit einverstanden. Er wartet, macht sich selbst verrückt, macht uns verrückt. Und wir sind auch blöd genug, uns nicht zu verabschieden. Der Wagen kommt etwa um 14.18 Uhr. Er geht hinauf zu seinem Zimmer und holt seine Aktenmappe. Geht dann gemächlich zum Dienstwagen. Er hatte seine ruhige Art wieder.

      Eine völlig überflüssige Vereinbarung mit dem Dienstwagen? Heute bin ich nicht mehr so sicher. Der Nationalökonom macht den Vorschlag, um möglicherweise seinem Diskussionspartner symbolisch mitzuteilen, daß er in der Lage ist, seine Gesprächspartner mit seinem Dienstwagen abholen zu lassen. Wie viele sind in der Lage, dieses Privileg zu demonstrieren? Der Dienstwagen macht vier Fahrten von je 10 Autominuten. Der Betriebswirt ist geehrt. Er glaubt aber seine Wichtigkeit eventuell zu verspielen, wenn er den Fußweg von einer Minute nimmt und seine Aktentasche selbst trägt. Lieber regt er sich selbst und uns auf. Moderne Rituale eben.

      Wie schon erwähnt, sind die Suiten im Gästehaus großzügig ausgelegt. Die Eingangstür führt zu einem Raum mit Sitzgelegenheiten. Eine Tür von diesem Raum führt zum Schlafzimmer und von dort eine Tür zum Badezimmer. Das Badezimmer hat nur eine Duschmöglichkeit und ein Klo mit Wasserspülung. Die Wasserspülung hat Tücken. Der Tank ist etwa in zwei Meter Höhe angebracht und mit einem Kettenzug versehen. Die Höhe stellt den nötigen Druck bei der Spülung sicher. Technisch eigentlich unproblematisch, solange sich kein Reibungsverschleiß bei der Kette eingestellt hat. Mit dem Verschleiß entsteht das Problem, daß nicht jeder Zug der Kette die Spülung in Gang setzen kann, sondern nur ein Zug in einem bestimmten Winkel. Da helfen weder häufige noch kräftige Züge. Eine verhängnisvolle Tücke. Außerdem gibt es keine indischen Städte mit 24stündiger Wasserversorgung. Deshalb haben alle städtischen Gebäude einen Tank auf dem Dach. Eine elektrische Pumpe sorgt dafür, daß das Wasser den Tank versorgt. Wenn das Wasser in diesen Tanks verbraucht ist, wird auch die Wasserspülung für das Klo nicht versorgt. Das ist die zweite Tücke. Auch die elektrische Versorgung ist nicht ohne Unterbrechung, „load shedding“ heißt der unregelmäßig regelmäßige Stromausfall. Wenn der Strom tagsüber ausfällt, muß man schwitzen, weil die elektrischen Ventilatoren nicht mehr die Verdunstungskühle erzeugen können. In der Dunkelheit beim Stromausfall sind noch Kerzen nötig. Wenn aber der Strom just in den Zeiten ausfällt, in denen auch das Wasser fließt, dann bleibt der Tank halt unversorgt. Wir sind mittlerweile alte Hasen im Gästehaus. Wir kennen diese Tücken und sorgen schon vor.

      Erstaunlich viele „abendländische“ Besucher im Gästehaus sind einfach Wissenschaftstouristen. Jaipur gehört zum Touristendreieck zwischen Agra und Neu–Delhi. Delhi hat eine alte Universität, Jaipur und Agra sind spätere Universitätsstädte. Auch die kurzweiligen Besucher aus den USA sind eigentlich insofern keine Touristen, weil ihre Reise– und Aufenthaltskosten von einer Stiftung 100 % abgedeckt werden. Diese Stiftung hat ihren Sitz in Neu–Delhi, heißt „Asia Foundation“, ist aber doch eine reine US–Stiftung. Sie finanziert alle möglichen Veranstaltungen, großzügig, weil sie immense Einnahmen in nicht konvertierbaren Rupien hat. Wieso?

      „Modernisierung“ durch wirtschaftliche Entwicklung beschreitet manchmal seltsame Wege. Die US–Wirtschaftsexperten überzeugen oder überreden indische Wirtschaftsplaner, im fruchtbaren Weizenland Zuckerrohr anzubauen, weil die Zuckerausfuhr in die USA für Indien ungeahnte Möglichkeiten öffnen würde, wertvolle Devisen zu verdienen. Indien hat einen chronischen Divisenmangel und kann nicht die notwendigen Maschinen für die Modernisierung importieren. Die USA hat schon mehr als einen Boykott über den Zuckerimport von der Zuckerinsel Kuba verhängt. Die USA brauchen Zucker und haben Weizen in Überfluß. Also könnte Indien den ungedeckten Weizenbedarf durch begünstigte Einfuhr


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