Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich

Preis des aufrechten Gangs - Prodosh Aich


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genug da und sitze in der vorderen Reihe. Der Nachbar zu meiner Rechten interessiert sich für mich. Er spricht mich an. Er hat einen leichten bayerischen Akzent. Nach der Veranstaltung machen wir beim Kaffee „small talk“. Er will freundlicherweise einen Platz frei halten, weil ich ja von Bonn anreise. Er hält sein Versprechen ein. Nach der Vorlesung will er mit König sprechen. Ich weiß nicht warum. Um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, gehe ich hinter ihm her und warte, bis er mit dem Gespräch mit König fertig ist. Anschließend gehen wir zusammen in ein Café.

      Er, Josef Gugler aus München, ist in der Endphase seiner Dissertation. Das Thema: die Französische Soziologie. Er war für mehrere Semester in Paris, spricht fließend französisch. Er ist nicht angeberisch und spricht leise. Als er hört, daß dies mein erstes Semester in Soziologie ist, nimmt sein Interesse an mir nicht ab. Wir verabreden uns wie das letzte Mal. Es bahnt sich eine Freundschaft an. Das übernächste Mal will er mich König vorstellen. Wieso? König habe ihm Vorwürfe gemacht, weil er mich nach der 2. Vorlesung hinten hatte warten lassen. Er hätte mich zumindest vorstellen sollen. König war selbst Immigrant. In Italien. Er weiß, was ein Auslandsaufenthalt ist. Ich bin befangen. Ich soll vorgestellt werden, nur weil ich ein Ausländer bin. Ich lerne also König kennen. Aufgeschlossen und freundlich. Wenn ich Probleme hätte, sollte ich ihn im Institut aufsuchen. Das Ganze ist überhaupt nicht formell. Die Atmosphäre ist locker, und ich nehme sein Angebot ernst. Nur habe ich kein Problem. Noch nicht.

      Die Skatwochenenden haben Folgen. Die Schwägerin von Rolf Frings ist häufig da. Wir lernen uns kennen, uns lieben und heiraten bereits im Dezember 1958. Für das Studium sollte ich mir mehr Zeit lassen und nicht so wie sie, rastlos durch das Studium hetzen. Als Arbeiterkind mußte sie das Studium selbst finanzieren, mußte immer gut sein. In der Mindestzeit hatte sie den Diplomvolkswirt und Dr. rer. pol. gemacht. Immer am Ende jedes Semesters "Fleißprüfungen" für den Erlaß der Studiengebühren gemacht. Ich sollte es besser haben. Dieser gutgemeinte Wunsch verursacht Unbehagen bei mir. Ich nehme mir vor, Skat, Bridge und Kino kurz zu halten und zum ersten Mal in Deutschland ernsthaft und fleißig mit dem Studium voran zu machen.

      König hatte bei seiner Berufung auch die renommierte „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“, das Sprachrohr der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, aber herausgegeben im Auftrage des Forschungsinstituts für Sozial– und Verwaltungswissenschaften in Köln, geerbt. Er führte die „Empirische Sozialforschung“ in Deutschland richtig ein. Früh hatte er dazu zwei Lehrbände herausgegeben. Er hält engen Kontakt zu den USA. Die „empirische Soziologie“ hat dort seit Mitte der dreißiger Jahre Hochkonjunktur: die Immigration vieler Wissenschaftler des berühmten „Wiener Kreises“ und anderer Wissenschaftler in die USA dank des „tausendjährigen Reichs“ in Deutschland, die Kriegsforschung, das Anlegen der sogenannten „Human Area Files“ durch die US–Regierung.

      Köln ist also der Platz für empirische soziologische Arbeiten. Andere Institutionen nehmen das Institut für Soziologie für Beratungen und Dienstleistungen in Anspruch, vor allem für die Ausbildung der Interviewer für Befragungen. Die Soziologiestudenten in Köln bekommen viele Gelegenheiten für Forschungsjobs: interviewen, das Material aufbereiten, kodieren, rechnen, usw. Und diese Arbeiten wurden gut bezahlt. Ich beteilige mich an diesen Arbeiten von Beginn an.

      Ich bin in Köln vollauf beschäftigt. Wochentags den ganzen Tag in Köln, abends regelmäßig im Büro des ISSF in Bonn, nachts in der Schlafstelle in der Weberstraße 96. An den Wochenenden in Düsseldorf. Meine Frau hat eine stressige Arbeit. Die volkswirtschaftliche Abteilung muß auch Reden für Vorstandsmitglieder schreiben. Kollegialität in der Abteilung gab es auch damals nicht. Sie sind Konkurrenten. Und meine Frau hat gerade ihre Promotion hinter sich. Sie will sich keine Blöße geben. Also arbeitet sie viel. Sie bringt regelmäßig Arbeit mit nach Hause. Auch an den Wochenenden. Sie tut dies aus freien Stücken, sagt sie.

      Wir diskutieren über das Unesco–Projekt, wann immer die Zeit dafür da ist. Erwartet wird sicherlich – darüber sind wir uns einig – eine Bestandsaufnahme der vielfältigen Betreuungsmaßnahmen für die ausländischen Studierenden und auch eventuelle Verbesserungsvorschläge. Mir ist klar, daß es um die afrikanischen und asiatischen Studierenden und nicht um die ausländischen Studierenden im Allgemeinen geht. Sie und ihre Schwierigkeiten sind im öffentlichen Gespräch. Sie fallen äußerlich auf. Sie werden diskriminiert. Vielfältig. Die Diskriminierung, Arten der Diskriminierung, deren Folgen – nicht nur für das Studium – sind das Problem und nicht die richtigen Betreuungsmaßnahmen. Ihre Lebenssituation in diesem Land müßte beschrieben werden. Wer sonst als die betroffenen Studierenden könnten uns genauer sagen, wie ihre Lebenssituation ausschaut, was sie dabei empfinden, welche Erwartungen sie haben.

      Meine Überlegungen diskutiere ich auch im Vorstand des ISSF. Auch darüber, ob es nicht sinnvoller wäre, die 5000,- US-$ für die Beschreibung der Aufenthaltssituation der afrikanischen und asiatischen Studierenden zu verwenden, als für die Reise– und Spesenkosten des Unesco–Referenten, für Veranstaltungen mit kleinem Imbiß und Umtrunk einiger ISSF–Hochschulgruppen zu verplempern. Der Vorstand unterstützt mich. Also warum nicht eine fundierte Befragung dieser Studierenden?

      Ich nehme das freundliche Angebot von René König in Anspruch. Ich berichte über das Anliegen von Unesco, über den Stand der Diskussion im ISSF und frage ohne Umschweife, ob er, ob sein Institut, unsere Befragung wissenschaftlich betreuen würde. Seine Antwort ist ein unmißverständliches „Nein“. Noch bevor ich meine Enttäuschung überspielen kann, fügt er hinzu:

      „Beratende Unterstützung ja, aber keine Betreuung. Nehmen Sie die Veranstaltungen und Beratungen in Anspruch. Entwerfen Sie ein Erhebungsinstrument. Das Institut kann und wird für Sie diese Arbeit nicht machen.“

      Beim Verabschieden bemerkt er, daß er das Gelingen des Projekts begrüßen werde. Ich nehme die Herausforderung an. Dies ist der Stand im Januar 1959.

      Das sozialwissenschaftliche Arbeiten lerne ich an diesem Unesco–Projekt, das sich schließlich zu einer wissenschaftlichen Untersuchung mausert. Das nichtuniversitäre Forschungsinstitut für sozialpolitische Fragen, das „Institut für Selbsthilfe und Sozialforschung e.V.“, ist unweit der Gebäude der WiSo–Fakultät. Dort ist eine von IBM angeleitete Lochkartensortiermaschine der 2. Generation. Nur zum Sortieren und Auszählen. Diese Maschine reicht aus – wenn auch zeitaufwendig –, Tabellen in absoluten Zahlen zu erstellen. Dann die Prozente mit dem Rechenschieber. Diese einfache Aufbereitung des Materials reicht für die Berichte aus, die die Auftraggeber von diesem Institut erwarten. In diesem „Institut für Selbsthilfe und Sozialforschung“ ist immer Bedarf an Hilfskräften, an Tagelöhner. Ich habe häufig in diesem Institut gearbeitet. Bald bin ich kein Tagelöhner mehr. Ich lerne schnell. Interviewen, Schlüssellisten erstellen, kodieren, lochen, sortieren, zählen, Tabellen schreiben, Prozente ausrechnen, also praktisch alle Arbeiten, die zwischen dem Abschluß der Feldarbeiten und dem Schreiben des Ergebnisberichts anfallen.

      Der Direktor des Instituts, Otto Blume, ist ein vielbeschäftigter, aber doch umgänglicher Mensch. Er ist auch Habilitationskandidat bei jenem Gerhard Weisser, der Hans Albert aus der Habilitationsmisere geholfen hatte. Gerhard Weisser hat einen guten Ruf. Als Sozialdemokrat achtet und kooperiert er beispielsweise mit Oswald von Nell–Breuning, einem an der katholischen Morallehre orientierten Sozialpolitiker. Er ist auch der Vorsitzende der Friedrich–Ebert–Stiftung. Und Otto Blume ist der Vertrauensdozent für die Stipendiaten in Köln, also auch mein Vertrauensdozent.

      Noch vor dem Ende des Wintersemesters 1958/1959 erkundigt sich Blume, ob ich an einer festen Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter interessiert wäre. Nicht in seinem Institut, sondern als Mitarbeiter von Gerhard Weisser. Die ausschließliche Aufgabe wäre englischsprachige sozialpolitische Literatur zu „Entwicklungsländern“ zu sichten, zu bibliographieren, zu lesen und darüber ausführliche Zusammenfassungen anzufertigen. Auf Deutsch, versteht sich. Der Arbeitsplatz wird im vierten Stock in einem angemieteten Haus neben den Hauptgebäuden der Universität sein.

      Im 2. Stock des gleichen Hauses ist das Institut für Soziologie und im Parterre ist das Seminar für Ethnologie. Weisser leitet neben seinem Seminar für Sozialpolitik noch die Institute: Institut für Genossenschaftswesen, Institut für Wohnungswirtschaft, Institut für Verwaltungswissenschaft,


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