Die seltsame Gräfin. Edgar Wallace

Die seltsame Gräfin - Edgar Wallace


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auf eine der drei einfachen Rosenholztüren, die auf demselben Flur lagen. Sie zögerte einen Augenblick, den Knopf zu drücken, aber dann nahm sie allen Mut zusammen und klingelte. Sie nahm an, daß sie lange warten müßte, denn wenn Mr. Dorn tatsächlich in der Nacht in ihrer Wohnung gewesen war, würde er jetzt sicher noch schlafen. Aber kaum hatte sie die Hand von dem Knopf zurückgezogen, da öffnete sich zu ihrem großen Erstaunen die Tür, und Michael Dorn stand vor ihr. Er schien schon einige Zeit auf zu sein, denn er war vollständig angekleidet und rasiert. Auch konnte man ihm nicht ansehen, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. »Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Miss Reddle«, sagte er. »Kommen Sie bitte herein.«

      Das Arbeitszimmer, in das er sie führte, war viel größer, als sie erwartet hatte; die durch die Dachneigung verursachte schiefe Decke gab ihm einen eigentümlichen, aber interessanten Charakter. Auf den ersten Blick sah sie, daß die Einrichtung aus alten, wertvollen Möbeln bestand. Der Schreibtisch, auf dem eine offene Zeitung lag, war zweifellos Boule-Arbeit. Das einzige moderne Stück in dem Raum war der tiefe Sessel vor dem Kamin. Radierungen hingen an den geschmackvoll getönten Wänden. In einer Nische stand ein Bücherschrank.

      »Ich komme aus einem sehr ernsten Anlass, Mr. Dorn.«

      »Es tut mir leid, das zu hören«, antwortete er und schob den bequemen Sessel für sie zurecht.

      »Ich möchte mich nicht setzen, danke schön. Gestern Abend sandten Sie mir eine Bonbonniere mit Schokolade. Ich kann wohl verstehen, daß Sie das in guter Absicht taten, aber ich denke, ich hätte Ihnen klar genug gesagt, daß ich Ihre Bekanntschaft nicht wünsche. Ich danke Ihnen vielmals für alles, was Sie für mich getan haben«, fuhr sie zusammenhanglos fort, »aber –« Sie machte eine Pause.

      »Aber?« wiederholte er.

      »Sie haben sich mir gegenüber ganz abscheulich betragen!« Sie wurde rot. »Mir Schokolade zu schicken, war schon eine Unverschämtheit, aber in meine Wohnung einzudringen, war ein Verbrechen! Ich bin hierhergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich mich an die Polizei wenden werde, wenn Sie mich jetzt nicht in Ruhe lassen!«

      Er lehnte am Tisch und spielte mit einem langen, spitzen Dolch, der offensichtlich als Brieföffner diente.

      »Sie sagten eben, daß ich in Ihre Wohnung eingedrungen sei – wie kommen Sie darauf?«

      »Ich habe Sie erkannt! Sie kamen, um die Bonbonniere wiederzuholen. Aber die Mühe hätten Sie sich sparen können – ich hätte sie Ihnen heute morgen sowieso zurückgeschickt.«

      Zu ihrem Erstaunen leugnete er nicht, daß er in ihrem Zimmer gewesen war, er gab es sogar offen zu.

      »Hätte ich das gewußt, dann wäre ich wahrhaftig nicht in der Nacht gekommen«, sagte er mit einer Ruhe, die sie vollständig fassungslos machte. »Mein Verhalten mag in Ihren Augen unentschuldbar sein, aber die Erklärung dafür ist sehr einfach. Bis Viertel nach eins wußte ich nämlich gar nicht, daß Sie die Schokolade erhalten hatten.«

      Er ging quer durch das Zimmer, zog eine Schublade auf und nahm die Bonbonniere heraus.

      »Das ist sie doch?«

      Sie war über seine Kühnheit so verblüfft, daß sie nicht sprechen konnte. Er legte die Bonbonniere in den Schrank zurück.

      »Ich habe Ihre Intelligenz unterschätzt, Miss Reddle. Leider habe ich allzu häufig in meinem Leben die Begabung der Frauen zu leicht genommen.«

      »Ich kann Sie nicht verstehen«, sagte sie hilflos. »Ich wollte Ihnen doch nur sagen –«

      »Sie wollten mir sagen, daß Sie die Polizei benachrichtigen würden, wenn sich so etwas wiederholt«, vollendete er. »Das wäre auch vollständig in Ordnung. Wann werden Sie Ihre neue Stellung antreten?«

      »Am Montag.« Sie war über sich selbst verwundert, daß sie ihm das sagte. Aber dann erinnerte sie sich daran, daß der Zweck ihres Herkommens nicht darin bestand, ihm über ihr Tun und Lassen Auskunft zu geben, und sie ging zur Tür. »Sie leugnen also nicht, daß Sie in meiner Wohnung waren?«

      »Nein – warum sollte ich das tun? Sie sahen mich doch. Durch den Lichtschein meiner Lampe weckte ich sie auf. Das tut mir sehr leid; wenn ich nicht diesen dummen Fehler gemacht hätte, würden Sie es gar nicht gemerkt haben.«

      Sie starrte ihn entsetzt an.

      »Sie geben zu, daß Sie bei mir waren?« fragte sie ihn, und ihr Erstaunen wuchs, als sie sich plötzlich darüber klar wurde, wie groß eigentlich sein Vergehen war. »Wie konnten Sie das tun, Mr. Dorn?«

      »Es ist viel leichter für mich, einen Fehler zuzugeben, als ihn durch Lügen zu beschönigen«, sagte er kühl. »Selbst Sie werden mir wegen meiner Offenheit Glauben schenken müssen.«

      Er begleitete sie zur Treppe und klingelte nach dem Fahrstuhl.

      »Sie müssen Ihre Tür zuschließen, Miss Reddle«, sagte er, »ganz gleich, wo Sie sind. Selbst in dem Palais der Gräfin von Moron – Sie müssen Ihre Tür immer verschlossen halten.«

      Er schaute den Fahrstuhlschacht hinunter und sah, daß der Lift nicht nach oben kam. Der Mann, der ihn bediente, hatte das Gebäude verlassen und sein Klingelzeichen nicht gehört.

      »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich Ihrer Mutter nicht schreiben. Sie würden falsche Hoffnungen erwecken – sie ist jetzt ruhig und ausgeglichen. Der Gedanke, daß Sie leben und alles wissen, könnte den schwachen Lebensfaden zerreißen, der sie all die Jahre aufrechterhalten hat.«

      »Woher wissen Sie das?« fragte sie atemlos und schaute ihn entsetzt an.

      Man hörte das leise Geräusch des sich nähernden Fahrstuhls.

      »Ich würde an Ihrer Stelle wirklich nicht schreiben«, sagte er mit einem Lächeln und geleitete dann das verstörte Mädchen in die Kabine. Er wartete, bis er unten das Aufschließen der Lifttür hörte, ging dann langsam in seine Wohnung zurück, schloß die Tür hinter sich und ließ sich in dem Sessel vor seinem Schreibtisch nieder. Aber er las die Zeitung nicht weiter.

      Eine halbe Stunde lang saß er, das Kinn in die Hand vergraben. Dann erhob er sich und öffnete die Tür zu dem zweiten Zimmer. Ein hagerer, kleiner Mann mit dunklem, melancholischem Gesicht saß geduldig auf einem Stuhl, seitdem die Klingel die Ankunft der jungen Dame gemeldet hatte. Auf einen Wink Dorns kam er in das Arbeitszimmer.

      »Spüren Sie Chesney Praye auf und suchen Sie herauszubekommen, was er letzte Nacht tat und wohin er ging. Er hat wahrscheinlich Bakkarat im Limbo-Klub gespielt. Wenn das stimmt, erkunden Sie, wieviel er verloren hat. Das wäre alles für heute.«

      Ohne ein Wort zu erwidern, verschwand der kleine Mann durch die Tür. Dorn rief ihn noch einmal zurück.

      »Gehen Sie auch nach Scotland Yard und versuchen Sie den Eigentümer eines blauen Buick Dr. XC 2997 festzustellen. Ich weiß schon, wer es ist, aber ich möchte die Sache bestätigt haben.«

      Als sich die Tür hinter seinem Angestellten geschlossen hatte, nahm Mike Dorn mehrere Bogen Papier aus einem Fach seines Schreibtisches und schrieb eine halbe Stunde lang eifrig. Als er den Brief beendet hatte, frankierte er ihn und bat den Liftführer, ihn zur Post zu tragen. Dann kehrte er in seine Wohnung zurück, nahm Kragen und Krawatte ab und legte sich nieder, um zu schlafen. Und er brauchte wirklich Schlaf, denn er hatte die letzten sechsunddreißig Stunden kein Auge geschlossen.

      8

      Lois Reddle konnte sich später nicht mehr an die Vorgänge dieses Morgens erinnern. Wie im Traum tat sie mechanisch ihre Arbeit, und daß sie nicht Fehler über Fehler machte, war ihrer natürlichen Ordnungsliebe zuzuschreiben. Sie ging mit Lizzy zum Mittagessen in ein benachbartes Restaurant. Wie gewöhnlich war das die Hauptmahlzeit des Tages, aber sie konnte nichts essen, und ihre Freundin war sehr besorgt um sie.

      »Was fehlt dir denn?« fragte Lizzy ängstlich.

      Lois gab sich die größte Mühe, nicht mehr daran zu denken.

      »Worüber


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