Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman). H. G. Wells
/p>
Dem
unvergänglichen
Andenken
CANDIDES
gewidmet
DAS ERSTE KAPITEL
berichtet, wie Mr. Blettsworthy auf eine Seereise geschickt wird, um den Stand seiner Gesundheit zu verbessern, und gibt einigen Aufschluß über seinen damaligen Geisteszustand.
1
Die Familie Blettsworthy
Die Blettsworthys, meine Familie, sind allezeit sehr gewissenhafte und vornehme Leute gewesen, die Blettsworthys aus Wiltshire vielleicht sogar in noch höherem Maße als die aus Sussex. Man möge es mir verzeihen, wenn ich einiges über sie sage, ehe ich meine eigene Geschichte beginne. Ich bin stolz auf meine Ahnen und auf die guten Sitten und die heitere Lebensart, die sie mir vererbt haben. Der Gedanke an sie hat mich, wie ich erzählen werde, in so mancher schwierigen Lage gestützt und aufrecht erhalten. »Was«, so habe ich mich stets gefragt, »soll ein Blettsworthy tun?« Und ich habe es zumindest versucht, mich durch meine Haltung meiner Familie würdig zu zeigen.
Es hat allezeit Blettsworthys in England gegeben, und zwar im Süden und im Westen des Landes, und sie sind stets so ziemlich dieselbe Art von Menschen gewesen. Zahlreiche Grabschriften und ähnliche Aufzeichnungen, die weit hinter die Zeit der Tudors zurückreichen, legen Zeugnis für ihre Tugenden ab, für ihr Wohlwollen, ihre Rechtschaffenheit und ihren unaufdringlichen Reichtum. Es soll auch im Languedoc einen Zweig der Familie geben, doch weiß ich darüber nichts Bestimmtes. Einige Blettsworthys sind nach Amerika, insbesondere nach Virginia ausgewandert, scheinen aber dort verschluckt worden zu sein und sind verlorengegangen. Doch zeichnet sich meine Familie durch eine zähe Eigenart aus, die nicht so leicht verschwindet. Vielleicht weiß irgendein amerikanischer Leser etwas über das Schicksal dieses Zweiges der Blettsworthys. Dergleichen Zufälle gibt es. In der Kathedrale von Salisbury steht die Alabaster-Statue eines Bischofs Blettsworthy; sie wurde aus der Kirche des alten Sarum dahin gebracht, als man dieses Städtchen dem Erdboden gleichmachte und Salisbury errichtete; das Marmorantlitz könnte als ein Bildnis meines Oheims, des Rektors von Harrow Hoeward, gelten, und die feinen Hände gleichen völlig den seinen. Es muß Blettsworthys in Amerika geben, und ich kann es kaum begreifen, daß man nichts von ihnen hört. Gewisse Züge ihrer Wesensart zeigen sich, wie man mir sagt, in der Landschaft Virginias, die weit, warm und freundlich sein soll, gleich unserem englischen Downland an sonnigen Tagen.
Die Blettsworthys sind eine Familie der Bodenkultur. Mit dem Handel haben sie sehr wenig zu tun gehabt, weder en gros noch en detail, auch haben sie in der unmittelbaren Entwicklung dessen, was man Industrialismus nennt, keine Rolle gespielt. Sie haben die Theologie der Jurisprudenz vorgezogen, noch lieber aber sich klassischen, botanischen und archäologischen Studien gewidmet; doch haben sie, wie das Domesday Book, jenes alte, unter Wilhelm dem Eroberer angelegte große Reichsgrundbuch Englands, beweist, ihre Pflicht dem Lande gegenüber wohl erfüllt, und Blettsworthy’s Bank ist in unserem Zeitalter der Verschmelzung eine der letzten bedeutenden Privatbanken. Sie spielt im Leben Westenglands immer noch eine wichtige Rolle. Die Blettsworthys wandten sich, dessen mag der Leser sicher sein, nicht aus Gier nach Wuchergewinn dem Bankwesen zu, sondern einfach nur, um den Bedürfnissen und Forderungen der weniger vertrauenswürdigen Nachbarn in Gloucestershire und Wiltshire entgegenzukommen. Der Zweig in Sussex ist vielleicht nicht ganz so frei von kaufmännischem Geist wie der in Wiltshire; während der Kriege mit Frankreich übte er »Freihandel«, was damals genau genommen ungesetzlich und überdies ein recht gefährliches Abenteuer war. Doch trotz des gewaltsamen Endes von Sir Carew Blettsworthy und seines Neffen Ralph infolge einer Meinungsverschiedenheit mit einigen Zollbeamten, die zu einem Blutvergießen in den Straßen von Rye führte, erwarb dieser Zweig durch seine Tätigkeit beträchtlichen Reichtum und örtlichen Einfluß und hat seine Beziehungen zur Einfuhr von Seidenstoffen und Branntwein bis auf den heutigen Tag nicht völlig gelöst.
Mein Vater war ein Mann von echtem Wert, aber exzentrischem Handeln. Viele seiner Taten bedurften der Erläuterung, ehe die Stichhaltigkeit seiner Beweggründe klar zutage trat, und manche konnten infolge der räumlichen Entfernung von der Heimat und aus gewohnheitsmäßiger Nachlässigkeit oder aus anderen Gründen niemals völlig geklärt werden. Es liegt den Blettsworthys nicht, Erklärungen abzugeben. Sie verlassen sich in der Regel auf ihr Ansehen. Da mein Vater der fünfte Sohn seiner Eltern war, keinerlei Aussichten auf ein Vermögen hatte und auch keinerlei leicht in Geld umzusetzende Fähigkeiten besaß, rieten ihm Freunde und Verwandte, sein Glück im Auslande zu versuchen; er verließ Wiltshire in jungen Jahren, um, wie er sagte, Gold zu suchen; er suchte es, das muß ich zugeben, ohne jedwede Gier und überdies zumeist an völlig ungeeigneten Plätzen. Gold kommt, wie ich höre, nur in ganz wenigen bestimmten Erdstrichen vor und wird in der Regel nicht von einzelnen, sondern im Rahmen eines »Goldrausches« gefunden; mein Vater aber hatte eine Abneigung gegen Menschenmengen und deren Verhalten; er zog es vor, das seltene und edle Metall in einer angenehmen Umgebung zu suchen, in der ihm der häßliche Wettkampf mit unkultivierten Menschen erspart blieb; inzwischen lebte er von den sehr bescheidenen Mitteln, die ihm seine wohlhabenderen Freunde und Verwandten zur Verfügung stellten. Seine Aussichten, eine Goldmine zu entdecken, wurden, das wußte er, durch sein Verhalten kaum gefördert, doch meinte er, daß es ihm die Hoffnung gewährte, irgendeinen anderen glücklichen Fund, den er machen mochte, für sich allein auszunützen. Bezüglich der Ehe war er leichtsinniger, als es unter den Blettsworthys üblich ist: Er ging mehrere Heiraten ein, einige davon in ziemlich formloser Weise – doch sind wir Blettsworthys alle ziemlich unvorsichtig im Abschließen von Verträgen. Meine Mutter war halb portugiesischer, halb syrischer Abstammung und hatte auch einen Tropfen madeirischen Blutes in den Adern. Madeira ist auch mein Geburtsort.
Meine Geburt war durchaus legitim; gewisse Verwirrungen in den ehelichen Verhältnissen meines Vaters entstanden erst später, und zwar als eine Folge der außerordentlich wandelbaren Natur der Ehe in tropischen und subtropischen Landstrichen.
Meine Mutter war, das schließe ich aus Briefen meines Vaters, eine Frau von leidenschaftlicher Selbstvergessenheit, in meiner Veranlagung aber scheint ihre Wesensart keineswegs völlig ausgemerzt. Ihr ist es, wie ich glaube, zuzuschreiben, daß ich mehr zu umfassenden als zu knappen Aussagen neige und unter gleichen Umständen die Realität dem reizvollen und ausgiebigen Gebrauch der Sprache unterzuordnen vermag. »Sie spricht viel«, schrieb mein Vater, als sie noch lebte, an meinen Onkel. »Kein Thema gelangt jemals zu einem Abschluß.« Sie empfand die Dinge so fein und scharf, daß sie instinktiv zu schützenden Worten Zuflucht nahm; ihr Gemüt konnte sich nicht zufrieden geben, solange eine Feststellung in irgendwelcher Hinsicht unvollkommen blieb. Sie feilte aus, sie retouchierte. Wie gut ich das verstehe! Auch ich weiß, daß Gedanken und Gefühle, die man unausgesprochen läßt, unerträglich werden können. Überdies ist ihr ohne Zweifel etwas dem Blettsworthyschen Blute noch Fremderes in mir zuzuschreiben: mein Gefühl für den inneren moralischen Konflikt. Ich bin mit mir selbst uneins – in welchem Maße, muß dies Buch erweisen. Ich habe keine innere Harmonie, lebe nicht in Frieden mit mir selbst, wie die richtigen Blettsworthys es tun. Ich kämpfe gegen den Blettsworthy in mir. Neben der vom Vater ererbten Vielfältigkeit des Wesens habe ich auch noch die Neigung zur Selbstbetrachtung. Wie der Leser wohl bemerken wird, betone ich immer wieder, daß ich ein Blettsworthy bin. Kein vierundzwanzigkarätiger Blettsworthy würde das tun. Ich bin bewußt ein Blettsworthy, weil ich mir dessen nicht völlig sicher bin. Wesentliche Teile meines Wesens stehen in keinem rechten Zusammenhang mit mir selbst. Vielleicht bin ich den Traditionen meiner Familie um so treuer ergeben, weil ich ihnen auf eine objektive Art treu sein kann.
Meine Mutter starb, als ich fünf Jahre alt war, und meine wenigen Erinnerungen an sie sind hoffnungslos verquickt mit einem Wirbelsturm, der die Insel verheerte. Zwei Wolken der Furcht vermischten sich miteinander und barsten, um schreckliche Wandlungen hervorzubringen. Ich erinnere mich an den Anblick entwurzelter Bäume und eingestürzter Häuser und weiß auch noch, daß ich verwundert eine Menge roter Blumenblätter in einem Straßengraben schwimmen sah; diese Bilder verknüpfen sich auf verworrene Art mit der Mitteilung, daß meine Mutter im Sterben liege, und schließlich mit der, daß sie tot sei. Wenn ich nicht irre, empfand ich damals weniger Kummer als basses Erstaunen.
Mein Vater schrieb