Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman). H. G. Wells

Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman) - H. G. Wells


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er aus einer Flüssigkeit ein Bildwerk schneide. Wo war das Grundgerüst? – überhaupt irgend ein Grundgerüst? Ein Mann wie Sir Bussy hätte in einem großen Kampfe zwischen den neuen Reichen und der älteren Oligarchie eine Rolle spielen sollen; er hätte einem römischen Ritter gleichen sollen, der den Patriziern gegenübersteht. Mit ihm hätte gewissermaßen das Zeitalter der Wahlrechtsdemokratie zu einem endgültigen Abschluß kommen müssen. Er hätte eine neue Phase in der Geschichte Großbritanniens, hätte das neue Imperium verkörpern sollen. Tat er das aber? Vertrat er überhaupt irgend etwas? Zu Zeiten überkam Mr. Parham ein Gefühl, als würde er verrückt werden, wenn es ihm nicht gelingen sollte, Sir Bussy zu einem Vertreter von irgend etwas zu stempeln, irgend etwas formell und historisch Bestimmtem.

      Die altehrwürdigen Entwicklungsprozesse der Geschichte mußten doch wohl immer noch weitergehen – ohne Zweifel gingen sie immer noch weiter. Was hätte sonst vor sich gehen sollen? Sicherheit und Vorherrschaft – in Europa, in Asien, im Finanzwesen – wurden mit würdevollem Ernst von Mr. Parham und ihm verwandten Seelen in den bedeutenderen Wochen- und Monatszeitschriften besprochen. Überall gab es immer noch Regierungen und auswärtige Ämter, und sie schlugen sich den Regeln entsprechend, anständig und ordnungsgemäß durch die Phasen eines Kampfes um Weltherrschaft hindurch. Jede irgendwie bedeutsame Verhandlung oder Abmachung zwischen den Mächten wurde nunmehr streng geheim gehalten. Die Spionage war niemals noch so ausgebreitet, gewissenhaft und angesehen gewesen, und das Doppelkreuz der christlichen Diplomatie herrschte von Washington bis Tokio. Großbritannien und Frankreich, Amerika, Deutschland und Moskau unterhielten Flotten und Heere, führten höchst würdevolle diplomatische Verhandlungen und trafen geheime Abmachungen miteinander sowie gegen einander, just als ob es das alberne Gerede von einem »Krieg, der den Krieg aus der Welt schaffen soll«, niemals gegeben hätte. Das bolschewistische Moskau hatte nach einer beunruhigenden Anfangsphase zu den besten Überlieferungen des auswärtigen Amtes der Zarenherrschaft zurückgefunden. Hätte Mr. Parham das Vorrecht eines freundschaftlichen Verkehrs mit Staatsmännern gleich Sir Austin Chamberlain und Mr. Winston Churchill oder Monsieur Poincaré genossen, wäre er von dem einen oder dem anderen zum Abendessen eingeladen worden, so würden sich nach beendigtem Mahle, bei zugezogenen Fenstervorhängen und indes Portwein und Zigarren sich, Schachfiguren vergleichbar, in nachdenklicher Unregelmäßigkeit über das schimmernde Mahagoni hin bewegten, Gespräche ergeben haben, die ihn warm und behaglich zu seinem unbedingten Glauben an die Geschichte zurückgeführt hätten, an die Geschichte, wie er sie gelernt hatte und lehrte.

      Leider boten sich ihm jedoch derartige gesellschaftliche Möglichkeiten nicht – trotz seiner lebendig aufschlußreichen Bücher und seiner trefflichen, ja mitunter geradezu bedeutenden Artikel.

      Da ihm ein beruhigender Umgang solcher Art fehlte, tauchte ein seltsamer Gedanke in seinem Geiste auf und gewann an Kraft, der Gedanke nämlich, daß rings um die gegenwärtigen Erscheinungen des historischen Geschehens etwas ganz Anderes und Neues im Gange sei und diese Erscheinungen, wenn auch nicht gerade bedrohe, so doch bedeutungslos mache. Es fiel ihm schwer zu sagen, was dieses Andere sein mochte. Es äußerte sich als eine riesengroße und stetig zunehmende Gleichgültigkeit. Es zeigte sich in der Tatsache, daß alle Welt so lebte, als ob die ernstesten Dinge des Daseins gar nicht mehr ernst zu nehmen wären.

      Als ob es vielmehr andere ernste Dinge gäbe. Und während der letzten Jahre hatte jenes Etwas sich Mr. Parham insbesondere in Sir Bussy gezeigt. Eines Nachts stellte Mr. Parham sich eine sehr ernste Frage. Es war ihm späterhin zweifelhaft, ob er sich in tiefes Brüten verloren habe oder von einem Alpdrücken heimgesucht worden sei, ob er nachgedacht oder nur geträumt habe, er denke nach. Angenommen – in dieser Form kam ihm die Sache in den Sinn – angenommen, Staatsmänner, Diplomaten, Fürsten, Professoren der Nationalökonomie, Militär- und Marinesachverständige, mit einem Wort, alle gegenwärtigen Erben der Geschichte, führten eine verwickelte, schwierige und gefährliche Situation herbei, eine Situation, in der Noten und Gegennoten getauscht, Äußerungen getan und sogar Ultimata gestellt würden, so daß es schließlich ob irgend einer »Frage« zu einer Kriegserklärung käme. Und angenommen – oh Entsetzen! – angenommen, die Menschen im allgemeinen und Sir Bussy im besonderen würden sich das Ganze gelassen ansehen, würden »Nu« oder »Was wollt ihr eigentlich?« sagen und sich abwenden. Sich abwenden und zu ihrer gewohnten Beschäftigung zurückkehren, der Beschäftigung mit Dingen, die für die Geschichte belanglos sind? Was würden die Erben der Geschichte dann tun? Würden die Soldaten es wagen, mit der Pistole gegen Sir Bussy vorzugehen? Würden die Staatsmänner ihn beiseite schieben? Angenommen, er würde sich nicht beiseite schieben lassen, sondern in der ihm eigenen, sonderbaren hinterhältigen Art und Weise Widerstand leisten. Angenommen, er würde sagen: »Schluß mit alledem – und zwar sofort!« Und angenommen, die anderen würden entdecken, daß sie wirklich Schluß damit zu machen haben!

      Was sollte dann aus unserem geschichtlichen Erbe werden? Wo bliebe das Reich, die Großmächte, unsere nationalen Überlieferungen und unsere Politik? Ein absonderlicher Gedanke, diese Vorstellung, daß die historische Tradition völlig zusammenbrechen sollte; so absonderlich, daß er Mr. Parham in wachem Zustand niemals in den Sinn gekommen wäre. Es gab in Mr. Parhams Geist tatsächlich nichts, worauf ein solcher Gedanke sich hätte stützen, keinerlei Begriffe, mit denen er sich hätte verknüpfen können; trotzdem faßte er Fuß und belästigte Mr. Parham wie eine alberne Melodie, die einem nicht aus dem Kopf will. »Sie werden nicht gehorchen – wenn die Zeit kommt, werden sie nicht gehorchen«; das war der Kehrreim. Was danach aus dem menschlichen Leben werden sollte, vermochte Mr. Parham sich nicht vorzustellen. Es konnte nichts anderes kommen als das Chaos!

      Worin Sir Bussy, das fühlte er, doch noch weiterleben würde, verwandelt vielleicht, aber in unverminderter Kraft. Erschrecklich. Triumphierend.

      Nunmehr war Mr. Parham völlig wach, darüber konnte kein Zweifel herrschen, und er lag wach, bis die Morgendämmerung kam.

      Die Muse der Geschichte mochte vom Aufstieg großer Dynastien erzählen, von der Vorherrschaft dieser oder jener Macht, von den ersten Anfängen des Nationalismus in Mazedonien, von dem Verfall und dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, von den endlosen Kämpfen zwischen dem Islam und dem Christentum oder der lateinischen und der griechischen Kirche, von der wunderbaren Laufbahn Alexanders, Cäsars und Napoleons, sie mochte das Zauberbuch der großen Taten aufschlagen und so Sir Bussy aufzurütteln sich bemühen, damit er seine Rolle spiele, seine untergeordnete, aber dennoch bedeutsame Rolle in ihrem stetig fortschreitenden Drama: Sir Bussy lauschte ihrer Rede stets nur schlaftrunken, hielt allem Anscheine nach nicht viel davon, verlor sich, irgend einem seiner eigenen Gedankengänge folgend, in Regionen, die Mr. Parham unzugänglich blieben, und sagte schließlich »Nu!«

      Nu!

      Mr. Parham begann sich schwach und elend zu fühlen …

      Und um die Schwierigkeiten seines Daseins zu vermehren, war da nun auch noch dieser verfluchte spiritistische Blödsinn, dieser verrückte Gedanke, einer Séance beizuwohnen und Medien ernst zu nehmen, Medien und die widerwärtigen, verrufenen und aufreizend rätselhaften Phänomene rings um sie.

      Als es zu dämmern begann, dachte Mr. Parham ganz ernstlich daran, Sir Bussy aufzugeben. Aber er hatte mit diesem Gedanken schon mehrere Male gespielt und immer mit demselben Ergebnis. Schließlich wohnte er nicht nur einer, sondern sogar einer ganzen Reihe von spiritistischen Sitzungen bei, wie dieses Buch berichten wird.

      2

      Wie Sir Bussy und Mr. Parham sich zusammenfanden

      Als Mr. Parham Sir Bussy vor fünf Jahren oder mehr zum ersten Male sah, hatte es den Anschein gehabt, als sei in dem großen Finanzmann ein wirkliches Interesse an geistigen Dingen lebendig. Ein bescheidenes, aber ernstes Interesse.

      Bei einem von Sebright Smith im Hotel Rialto veranstalteten Herren-Souper hatte Mr. Parham über Michelangelo und Botticelli gesprochen. Es war eine jener Veranstaltungen gewesen, die Mr. Parham als Sebrights wunderbare Geselligkeitskunststücke zu bezeichnen pflegte. Sebright Smith ging allezeit in größter Unbekümmertheit eine Fülle gesellschaftlicher Verpflichtungen ein, und wenn es ihrer so viele geworden waren, daß sie ihn zu bedrücken begannen, gab er ein riesenhaftes Diner oder Souper, um sich ihrer zu entledigen. Es war ihm gleichgültig, welche Leute


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