Anthroposophische Leitsätze. Rudolf Steiner

Anthroposophische Leitsätze - Rudolf Steiner


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nicht eine bessere, sondern eine schlechtere Theorie als andere. Aber sie wird eben erst Theorie, wenn man sie dazu macht, wenn man sie tötet. Das wird noch viel zu wenig gesehen, dass Anthroposophie nicht nur eine andere Weltanschauung ist als andere, sondern dass sie auch anders aufgenommen werden muss. Man erkennt und erlebt ihr Wesen erst in dieser anderen Art des Aufnehmens.

      Das Goetheanum sollte als der notwendige Mittelpunkt des anthroposophischen Arbeitens und Wirkens angesehen werden; aber man sollte nicht aus dem Auge verlieren, dass in den Zweigen der anthroposophische Stoff, der erarbeitet worden ist, auch zur Geltung komme. Was am Goetheanum gewirkt wird, das kann im vollen lebendigen Sinne die ganze Anthroposophische Gesellschaft nach und nach haben, wenn möglichst viele Mitglieder aus dem Leben der Zweige heraus an das Goetheanum selbst herankommen und, soviel ihnen möglich ist, an seinem lebendigen Wirken teilnehmen. Das alles aber muss mit Innerlichkeit gestaltet werden; mit dem äußerlichen »Mitteilen« des Inhaltes von jeder Woche geht es nicht. Der Vorstand am Goetheanum wird Zeit brauchen und bei den Mitgliedern Verständnis finden müssen. Dann wird er im Sinne der Weihnachtstagung wirken können.

      Leitsätze Nr. 76 bis 78

      (10. August 1924)

      76. Will man eine Vorstellung der ersten Hierarchie (Seraphim, Cherubim und Throne) hervorrufen, so wird man darnach suchen müssen, Bilder zu gestalten, in denen Geistiges (nur übersinnlich Schaubares) in den Formen sich wirkend offenbart, die in der Sinnenwelt zur Erscheinung kommen. Geistiges in sinnenfälliger Bildlichkeit muss Inhalt der Gedanken über die erste Hierarchie sein.

      77. Will man eine Vorstellung der zweiten Hierarchie (Kyriotetes, Dynameis, Exusiai) hervorrufen, so wird man darnach suchen müssen, Bilder zu gestalten, in denen Geistiges nicht in sinnenfälligen Formen, sondern auf rein geistige Art sich offenbart. Geistiges in nicht sinnenfälliger, sondern rein geistiger Bildlichkeit muss der Inhalt der Gedanken über die zweite Hierarchie sein.

      78. Will man eine Vorstellung der dritten Hierarchie (Archai, Archangeloi, Angeloi) hervorrufen, so wird man darnach suchen müssen, Bilder zu gestalten, in denen Geistiges nicht in sinnenfälligen Formen, aber auch nicht auf rein geistige Art, sondern so sich offenbart, wie Denken, Fühlen und Wollen in der menschlichen Seele sich darleben. Geistiges in seelenhafter Bildlichkeit muss der Inhalt der Gedanken über eine dritte Hierarchie sein.

      Im Anbruch des Michael-Zeitalters

      Bis zum neunten Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha stand der Mensch anders zu seinen Gedanken als später. Er hatte nicht die Empfindung, dass er die in seiner Seele lebenden Gedanken selbst hervorbringe. Er betrachtete sie als Eingebungen einer geistigen Welt. Auch wenn er über das Gedanken hatte, was er mit seinen Sinnen wahrnahm, waren ihm die Gedanken Offenbarungen des Göttlichen, das aus den Sinnesdingen zu ihm sprach.

      Wer geistige Schauungen hat, begreift diese Empfindung. Denn, wenn ein geistig Wirkliches sich der Seele mitteilt, so hat man niemals das Gefühl, da ist die geistige Wahrnehmung, und man formt selber den Gedanken, um die Wahrnehmung zu begreifen; sondern man schaut den Gedanken, der in der Wahrnehmung enthalten und mit ihr gegeben ist, so objektiv wie sie selbst.

      Mit dem neunten Jahrhundert – selbstverständlich sind solche Angaben so zu nehmen, dass sie eine mittlere Zeitangabe bilden; der Übergang geschieht ganz allmählich -leuchtete in den Menschenseelen die persönlich-individuelle Intelligenz auf. Der Mensch bekam das Gefühl: ich bilde die Gedanken. Und dieses Bilden der Gedanken wurde das Überragende im Seelenleben, so dass die Denkenden das Wesen der Menschenseele im intelligenten Verhalten sahen. Vorher hatte man von der Seele eine imaginative Vorstellung. Man sah ihr Wesen nicht im Gedankenbilden, sondern in ihrem Teilhaben an dem geistigen Inhalt der Welt. Die übersinnlichen geistigen Wesen dachte man denkend; und sie wirken in den Menschen hinein; sie denken auch in ihn hinein. Was so von der übersinnlichen geistigen Welt im Menschen lebt, das empfand man als Seele.

      Sobald man in die geistige Welt mit seiner Anschauung hinaufdringt, kommt man an konkrete geistige Wesensmächte heran. In alten Lehren hat man die Macht, aus der die Gedanken der Dinge erfließen, mit dem Namen Michael bezeichnet. Der Name kann beibehalten werden. Dann kann man sagen: die Menschen empfingen einst von Michael die Gedanken. Michael verwaltete die kosmische Intelligenz. Vom neunten Jahrhundert an verspürten die Menschen nicht mehr, dass ihnen Michael die Gedanken inspiriert. Sie waren seiner Herrschaft entfallen; sie fielen aus der geistigen Welt in die individuellen Menschenseelen.

      Innerhalb der Menschheit wurde nunmehr das Gedankenleben ausgebildet. Man war zunächst unsicher, was man an den Gedanken hatte. Diese Unsicherheit lebte in den scholastischen Lehren. Die Scholastiker zerfielen in Realisten und Nominalisten. Die Realisten – deren Führer Thomas von Aquino und die ihm Nahestehenden waren -fühlten noch die alte Zusammengehörigkeit von Gedanke und Ding. Sie sahen daher in den Gedanken ein Wirkliches, das in den Dingen lebt. Die Gedanken des Menschen sahen sie als etwas an, das als Wirklichkeit aus den Dingen in die Seele hinüberfließt. – Die Nominalisten fühlten stark den Tatbestand, dass die Seele ihre Gedanken bildet. Sie empfanden die Gedanken nur als Subjektives, das in der Seele lebt und das mit den Dingen nichts zu tun hat. Sie meinten: die Gedanken seien nur vom Menschen gebildete Namen für die Dinge. (Man sprach nicht von »Gedanken«, sondern von »Universalien«; aber das kommt für das Prinzipielle der Anschauung nicht in Betracht, da Gedanken ja immer etwas Universelles im Verhältnis zu den einzelnen Dingen haben.)

      Man kann sagen: Die Realisten wollten Michael die Treue bewahren; auch da die Gedanken aus seinem Bereich in den der Menschen gefallen waren, wollten sie als Denker dem Michael dienen als dem Fürsten der Intelligenz des Kosmos. – Die Nominalisten vollzogen in ihrem unbewussten Seelenteil den Abfall von Michael. Sie betrachteten nicht Michael, sondern den Menschen als den Eigentümer der Gedanken.

      Der Nominalismus gewann an Verbreitung und Einfluss. Das konnte so fortgehen bis in das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. In diesem Zeitalter empfanden diejenigen Menschen, die sich auf die Wahrnehmung der geistigen Geschehnisse innerhalb des Weltalls verstehen, dass Michael dem Strom des intellektuellen Lebens nachgezogen war. Er sucht nach einer neuen Metamorphose seiner kosmischen Aufgabe. Er ließ vorher von der geistigen Außenwelt her die Gedanken in die Seelen der Menschen strömen; vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts an will er in den Menschenseelen leben, in denen die Gedanken gebildet werden. Vorher sahen die Michael verwandten Menschen Michael im Geistbereich seine Tätigkeit entfalten; jetzt erkennen sie, dass sie Michael im Herzen wohnen lassen sollen; jetzt weihen sie ihm ihr gedankengetragenes geistiges Leben; jetzt lassen sie sich im freien, individuellen Gedankenleben von Michael darüber belehren, welches die rechten Wege der Seele sind.

      Menschen, die im vorangehenden Erdenleben in inspiriertem Gedankenwesen gestanden haben, also Michaeldiener waren, fühlten sich, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder ins Erdenleben gekommen, zu solcher freiwilligen Michaelgemeinschaft gedrängt. Sie betrachteten ihren alten Gedankeninspirator nunmehr als den Weiser im höheren Gedankenwesen.

      Wer auf solche Dinge zu achten versteht, der konnte wissen, welch ein Umschwung im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sich mit Bezug auf das Gedankenleben der Menschen vollzogen hat. Vorher konnte der Mensch nur fühlen, wie aus seinem Wesen heraus die Gedanken sich formten; von dem angedeuteten Zeitabschnitt an kann er sich über sein Wesen erheben; er kann den Sinn ins Geistige lenken; da tritt ihm Michael entgegen, und der erweist sich als altverwandt mit allem Gedankenweben. Der befreit die Gedanken aus dem Bereich des Kopfes; er macht ihnen den Weg zum Herzen frei; er löst die Begeisterung aus dem Gemüte los, so dass der Mensch in seelischer Hingabe leben kann an alles, was sich im Gedankenlicht erfahren lässt. Das Michaelzeitalter ist angebrochen. Die Herzen beginnen, Gedanken zu haben; die Begeisterung entströmt nicht mehr bloß mystischem Dunkel, sondern gedankengetragener Seelenklarheit. Dies verstehen, heißt, Michael in sein Gemüt aufnehmen. Gedanken, die heute nach dem Erfassen des Geistigen trachten, müssen Herzen entstammen, die für Michael als den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls schlagen.

      Leitsätze Nr. 79 bis 81

      (17.


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