Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace
haben mich gefunden!«
Tarling nickte.
»Und da Sie mich also gefunden haben«, fuhr sie schnell und hastig fort, »was wollen Sie von mir?«
Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen und sah ihn an. Ihre Haltung verriet aufs deutlichste ihre Erregung.
»Ich möchte einige Fragen an Sie stellen«, sagte Tarling und nahm ein kleines Notizbuch aus der Tasche, das er auf sein Knie legte.
Er war betroffen, als sie den Kopf schüttelte.
»Ich glaube nicht, daß ich Ihre Fragen beantworten kann«, erwiderte sie etwas ruhiger, »aber es liegt ja kein Grund vor, warum Sie diese Fragen nicht an mich stellen sollten.«
Ein solches Verhalten hatte Tarling nicht vorausgesehen. Er hätte es verstanden, wenn sie vollständig verwirrt vor Furcht gewesen wäre, wenn sie geschluchzt hätte, wenn sie so erschrocken wäre, daß sie nicht zusammenhängend hätte antworten können. Wäre sie entrüstet oder beschämt gewesen, hätte sie ein Benehmen gezeigt, das mit beleidigter Unschuld oder mit Schuldbewußtsein übereinstimmte!
»Zunächst muß ich Sie um Auskunft bitten: warum halten Sie sich hier unter dem angenommenen Namen ›Miss Stevens‹ auf?« fragte er etwas schroff.
Sie zögerte und dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte sie wieder entschieden den Kopf.
»Das ist eine Frage, die ich Ihnen nicht beantworten möchte«, erwiderte sie ruhig.
»Ich möchte im Augenblick nicht weiter in Sie dringen, da diese Antwort mit gewissen anderen außergewöhnlichen Handlungen in engem Zusammenhang steht, Miss Rider.«
Sie errötete und senkte den Blick.
»Warum haben Sie London heimlich verlassen, ohne Ihren Freunden oder Ihrer Mutter etwas über Ihre Absichten zu sagen?«
Sie sah ihn scharf an.
»Haben Sie meine Mutter gesehen?« fragte sie schnell.
»Ja, ich habe Ihre Mutter aufgesucht. Ich habe auch das Telegramm gelesen, das Sie ihr geschickt haben. Miss Rider, wollen Sie sich denn nicht von mir helfen lassen? Glauben Sie, es hängt von Ihren Antworten viel mehr ab, als Sie zu ahnen scheinen. Ich frage nicht, um meine Neugierde zu befriedigen. Denken Sie doch daran, wie ernst Ihre Lage ist.«
Er sah, wie sie die Lippen zusammenpreßte.
»Ich kann nichts dazu sagen.« Sie atmete schwer. »Wenn – wenn – Sie der Meinung sind, daß ich –«
Sie hörte plötzlich auf zu sprechen.
»Beenden Sie Ihren Satz«, sagte Tarling fest. »Wollten Sie nicht sagen, wenn ich der Ansicht wäre, daß Sie dies Verbrechen begangen haben?«
Sie nickte.
Er steckte das Notizbuch ein; bevor er weiter mit ihr sprach, lehnte sich über den Bettrand und nahm ihre Hand.
»Miss Rider, ich möchte Ihnen helfen«, sagte er eindringlich. »Und ich kann Ihnen am besten helfen, wenn Sie mir gegenüber ganz offen sind. Ich glaube nicht, daß Sie diese Tat begangen haben. Und obgleich alle Umstände auf Ihre Schuld hinweisen, habe ich doch das feste Vertrauen, daß Sie die Anklagen, die gegen Sie erhoben worden sind, durch Ihre Antworten entkräften können.«
Tränen traten in ihre Augen, aber sie unterdrückte diese Gefühlsaufwallung und schaute ihm frei in die Augen.
»Es ist so gut und lieb von Ihnen, Mr. Tarling, und ich weiß Ihre Güte sehr zu schätzen. Aber ich kann Ihnen nichts sagen – ich kann es nicht!« Sie packte ihn in ihrer Aufregung so heftig am Handgelenk, daß er dachte, sie würde zusammenbrechen. Aber mit der größten Willensanstrengung riß sie sich wieder zusammen. Ihre Selbstbeherrschung nötigte ihm Bewunderung ab.
»Sie werden sehr schlecht von mir denken, Mr. Tarling. Das tut mir mehr leid, als Sie ahnen können. Bitte, glauben Sie an meine Unschuld, aber ich kann nichts unternehmen, um sie zu beweisen.«
»Das ist Wahnsinn!« unterbrach er sie rauh. »Vollkommener Wahnsinn! Sie müssen etwas tun. Hören Sie mich? Sie müssen unter allen Umständen etwas tun, um sich zu entlasten.«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre kleine Hand, die auf der seinen ruhte, schloß sich um zwei seiner Finger.
»Es ist mir unmöglich«, sagte sie einfach. »Ich kann es nicht.«
Tarling rückte vor Aufregung seinen Stuhl zurück. Dieser Fall war hoffnungslos! Wenn sie ihm doch nur die geringste Andeutung gemacht hätte, die ihm einen weiteren Aufschluß ermöglichte. Wenn sie nur gegen alles protestiert, ihre Unschuld beteuert hätte! Er verlor den Mut und sah sie nur hilflos und traurig an.
»Nehmen wir einmal an«, sagte er heiser, »daß nun eine Anklage gegen Sie erhoben wird wegen dieses – Verbrechens. Wollen Sie mir sagen, daß Sie sich dann nicht verteidigen, nicht Ihre Unschuld beweisen, nichts vorbringen wollen, was Sie entlasten könnte?«
»Ja, das wollte ich damit ausdrücken.«
»Mein Gott, Sie wissen nicht, was Sie sagen!« rief er und sprang auf. »Sie sind nicht bei Sinnen, Odette, Sie sind wahnsinnig!«
Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Züge, als ihr bewußt wurde, daß er sie mit ihrem Vornamen angeredet hatte.
»Nein, Mr. Tarling, ich bin nicht wahnsinnig, ich bin bei vollständig klarem Verstand.«
Sie sah ihn nachdenklich an, aber plötzlich schien sie ihre feste Haltung zu verlieren und wurde bleich.
»Sie – Sie – haben einen Haftbefehl für mich!« sagte sie leise.
Er nickte.
»Wollen Sie mich verhaften?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er kurz. »Das muß ich anderen überlassen. Ich bin ganz elend von dieser Geschichte, ich will mich zurückziehen.«
»Er hat Sie hierhergeschickt?« fragte sie langsam.
»Er?«
»Ich besinne mich darauf. Sie waren doch für ihn tätig, oder er wollte Sie für sich engagieren.«
»Von wem sprechen Sie denn?« fragte Tarling schnell.
»Von Thornton Lyne.«
Tarling starrte sie an.
»Sie sprechen von Thornton Lyne? Ja, wissen Sie denn nicht –«
»Was sollte ich wissen?« fragte sie stirnrunzelnd.
»Daß Thornton Lyne tot ist! Und daß der Haftbefehl gegen Sie wegen seiner Ermordung erlassen wurde?«
Sie starrte ihn einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an.
»Tot!« rief sie atemlos. »Tot! Thornton Lyne ist tot! Das ist doch nicht Ihr Ernst?« Sie klammerte sich an seinen Arm. »Sagen Sie mir, daß es nicht wahr ist! Thornton Lyne ist nicht ermordet!«
Sie schwankte und fiel nach vorn über. Tarling kniete schnell neben ihrem Bett nieder und fing sie auf, als sie ohnmächtig wurde.
12.
Während die Krankenschwester sich um Odette bemühte, suchte Tarling den Chefarzt des Hospitals auf.
»Ich glaube nicht, daß der Zustand von Miss Stevens irgendwie bedenklich ist. Ich hätte sie schon gestern entlassen können und habe sie nur auf ihre Bitte hin hiergelassen. Stimmt es übrigens, daß sie in Verbindung mit dem ›Narzissenmord‹ gesucht wird?«
»Ja, wir brauchen sie als Zeugin«, erwiderte Tarling ausweichend. Es war ihm aber klar, daß seine Antwort nicht recht glaubwürdig klang, denn die Tatsache, daß ein Haftbefehl gegen Odette Rider erlassen worden war, mußte allgemein bekannt sein. Ihre Personenbeschreibung und alle näheren Umstände waren den Direktionen der Hospitäler und der öffentlichen Anstalten ohne Verzug zugesandt worden. Die nächsten Worte des Arztes bestätigten