Spiritualität - ganz ohne Spiritualität. Anton Weiß

Spiritualität - ganz ohne Spiritualität - Anton Weiß


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seiner eigenen Geschichte heraus zu verstehen. Von da her steht meine Auffassung in klarem Gegensatz zu der heute üblicherweise von Wissenschaftlern vertretenen Anschauung, dass „die Evolution von Zufallsereignissen angetrieben wird, dass sie kein Ziel verfolgt oder eine Richtung besitzt“ und „dass es zu keinem Zeitpunkt … so etwas wie eine Notwendigkeit (gab)“ (Metzinger 87) (Ich halte diese Aussagen wissenschaftlich nicht für verantwortlich, denn es ist kein Wissen, sondern lediglich eine Meinung!)

      Ich bin überzeugt, dass das Unternehmen „Welt“ mit seiner Entwicklung des Lebens bis hin zum menschlichen Bewusstsein – nicht zur Gestalt des Menschen! – eine Sinnrichtung hat.

      Und insofern ist es für mich unabweisbar, dass dem ganzen Kosmos (Kosmos heißt „Ordnung“) ein Plan innewohnt. Als Teilhard de Chardins Gedanken in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts bekannt wurden, war ich davon begeistert: Dass die Materie die Außenseite ist, die eine Innenseite hat, nämlich den Geist, der die Entwicklung der Materie vorantreibt, war für mich wie eine Offenbarung. Das hat mir zutiefst eingeleuchtet und ich bin heute noch von der Richtigkeit dieser Idee überzeugt. Dem ganzen materiellen Sein wohnt eine treibende Kraft inne, die die Entwicklung vorantreibt, ausgehend vom materiellen Sein zu den ersten Formen des Lebens, weiter zu Pflanzen, Tieren und dann zum Menschen. Aber auch dem Menschen wohnt immer noch diese vorantreibende Kraft inne. Es ist mit ihm noch nicht die letzte Entwicklungsstufe erreicht. Die derzeitige Entwicklungsstufe besteht in einem bewussten Leben als Ich. Bewusstes Leben gibt es schon in früheren Lebensformen, denn wenn sich ein Tier im Spiegel erkennt, liegt Bewusstsein vor. Aber das Ich-Sein, sich als eigenständiges, von anderen getrenntes Wesen zu erleben, gibt es vielleicht so erst beim Menschen. Jedenfalls ist es der Mensch wie kein anderes Lebewesen vor ihm, der durch sein Ich-Sein die Erde und beginnend auch den Weltraum zu beherrschen versucht. Ganz nach dem Bibelwort: „Machet euch die Erde untertan“, aufgeschrieben vor 3000 Jahren, hat der Mensch seinen Siegeszug angetreten und sich alles untertan gemacht. Das Ergebnis sehen wir heute. Der Mensch muss heute vor sich selbst Angst haben. Er sägt an dem Ast, auf dem er sitzt, und es wird spannend im Verlauf der nächsten Jahrzehnte, wohin das führt, ob er fähig ist, das Herunterfallen noch abzuwenden.

      Den Grund für die Tragödie des Menschseins sehe ich in seinem Ich-Sein.

      Aber dieses Ich-Sein sehe ich nicht als die letzte Stufe der Entwicklung an. Die Entwicklung treibt den Menschen weiter voran, sie treibt ihn über sein Ich-Sein hinaus; sie zwingt ihn, sein Ich-Sein hinter sich zu lassen, zu transzendieren. Die Transzendierung des Ichs ist aber nur möglich durch einen Zusammenbruch des Ichs. Diese nächste Stufe, die erreicht werden soll, wird von Teilhard de Chardin „Christogenese“ genannt, also das Hervortreten des Christus. Teilhard de Chardin war Jesuitenpater, er war Wissenschaftler und gläubiger Christ, deshalb nannte er die nächste Stufe in der Entwicklung Christogenese. Er hat in Jesus von Nazareth die Verwirklichung und Vorausnahme dieses neuen Entwicklungsschrittes gesehen. Ich möchte das erweitern: Ich sehe diese neue Entwicklungsstufe in einer Reihe von anderen Menschen ebenfalls erreicht: in Buddha, Lao-tse, Meister Eckhart, Rumi. Es sind Menschen, in denen sich die Transzendierung, also das Überschreiten, das Hinter-sich-Lassen des Ichs ereignet hat. Ich könnte auch heute lebende Menschen nennen, die aber nur solchen Leuten bekannt sind, die sich mit spiritueller Literatur befassen: Karl Renz, Rick Linchitz, Douglas Harding (der ist 1909 geboren und möglicherweise schon gestorben).

      Welche Bewandtnis es mit der Transzendierung des Ichs hat, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

      Die treibende Kraft

      Wie gesagt, sehe ich eine treibende Kraft in der gesamten Entwicklung. Diese treibende Kraft zeigt sich im Menschen in der Tatsache, dass er auf der Suche ist. Er ist auf der Suche nach dem, was man allgemein vielleicht als Glück bezeichnen kann. Ich bevorzuge den Ausdruck „Erfüllung“. Alle Menschen wollen ein erfülltes Leben haben.

      Wir gestalten unser Leben in der Absicht, glücklich zu werden, also Erfüllung zu finden. Und wir glauben das dadurch bewerkstelligen zu können, dass wir uns einige Dinge beschaffen, die wir dazu brauchen. Dazu gehört ein gehobener Lebensstandard, ein gesichertes Einkommen, eine Partnerin, Familie und all die Annehmlichkeiten, von denen wir heute überzeugt sind, dass sie notwendig sind zu einem zufriedenen Leben. Und nun haben wir weitgehend alle diese Dinge und stellen fest – wenn wir ehrlich sind -, dass die Erfüllung ausbleibt.

      In den ersten Lebensjahren ist die Erfüllung noch leicht zu finden: Die Mutterbrust reicht, um Sättigung und Geborgenheit und damit Zufriedenheit zu vermitteln. Aber mit etwa zweieinhalb Jahren tritt das Ich hervor und damit verbunden Wünsche an das Leben, die nun nicht mehr alle erfüllt werden können. Und nun kommt Unzufriedenheit auf, weil die Wünsche nicht mehr erfüllt werden. Aber der Anschein täuscht: Selbst wenn alle Wünsche erfüllt würden, bliebe immer noch ein Unbefriedigtsein.

      Ich will Ihnen das jetzt gar nicht beweisen, weil meine Erfahrung aus vielen Gesprächen zeigt, dass alles, was ich an Argumenten vorbringen könnte, anders gedeutet werden kann. Ich möchte Ihnen aber zeigen, warum ich das so sehe.

      Die Wünsche erstrecken sich bei den meisten Menschen auf materielle Güter. Aber auch geistige Güter, wie ein großes Wissen oder Reisen, gesellschaftliches Leben oder Familienleben können Inhalt dessen sein, wovon sich Menschen die Erfüllung erhoffen. Wer bei sich genau hinschaut und sich nichts vormacht wird entdecken, dass die eigentliche Erfüllung bei all seinen Unternehmungen letztlich ausbleibt. Es gibt zwar viele schöne Momente im Leben, wenn man einen sportlichen, beruflichen oder privaten Erfolg hat, aber es sind nur kurze, vergängliche Momente; im Grunde sehnt man sich nach einer bleibenden Erfüllung, und allmählich merkt man, dass diese ausbleibt.

      Manche glauben nun, dass das Nicht-Finden der Erfüllung daran liegt, dass man noch nicht genügend hat. So versucht man, immer mehr zu bekommen, das Neueste, das Schönste, das Teuerste und so artet die Suche nach der Erfüllung in Gier aus. Das ist für mich das deutlichste Kennzeichen dafür, dass das Verlangen ein unendliches ist, das durch nichts, was der Mensch haben kann, erfüllt wird. Dadurch wird jedes Verlangen maßlos.

      Das Ich in seinem Verlangen wird auch da sichtbar, wo Menschen glauben, rational zu handeln und gar nicht merken, wie sehr ihr Handeln vom Irrationalen, Unbewussten bestimmt ist. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Obwohl das Auto noch völlig in Ordnung ist und das Geld knapp ist, glaubt jemand unbedingt ein neues Auto kaufen zu müssen. Und er findet viele rationale Gründe, warum das notwendig ist: Es hat schon Rost am Kotflügel; es war kürzlich eine Reparatur fällig, die werden sich in Zukunft häufen usw.. Ich denke, jeder kennt das, aber kaum einer ist sich bewusst, wie sehr sein Ich es ist, das die rationalen Gründe vorschiebt. Der tiefere Grund ist einfach das Verlangen nach einem neuen Auto. Es ist das unbedingte Wollen von etwas, was man im Grunde gar nicht braucht. Aber man rechtfertigt es, hat rationale Argumente dafür. Dennoch sind es nur Scheinargumente um zu verbergen, dass man einem unbewussten Drängen erliegt. Dieses Drängen ist ein Verlangen nach mehr, nach etwas, was so nicht zu finden ist. Es ist eine treibende Kraft am Werk, die den Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt.

      In einem weiteren Punkt sehe ich die über das Ich-Sein hinausdrängende Kraft: in der Tatsache, dass der Mensch nie zufrieden ist.

      Der Mensch ist zutiefst unzufrieden; er sehnt sich nach etwas, was es so, auf der horizontalen Ebene nicht gibt; was durch alles Haben an Gütern, durch alles Haben, was durch menschliches Streben erreichbar und machbar ist, nicht erreicht werden kann. Dazu gehören auch Reisen, Wissen, Sex, künstlerisches Schaffen und spirituelles Suchen. Nichts vermag dieses unstillbare Verlangen auszufüllen.

      Dass ein Mensch nicht zufrieden ist mit dem Leben, das er führt, dass er immer auf der Suche ist, scheint mir ein entscheidender Unterschied zum Tier zu sein. Ein Tier ist mit dem Leben, in dem es sich befindet, zufrieden. Es verwirklicht sich in dem Maße, in dem es sich in seinen Gegebenheiten vorfindet: Ein Löwe jagt, eine Kuh grast, ein Vogel fliegt durch die Lüfte und ein Fisch schwimmt im Wasser - und sie scheinen in der Erfüllung ihrer Gegebenheiten ein befriedigendes Leben zu führen. Anders der Mensch: Er ist nicht zufrieden mit dem Zustand, in dem er sich vorfindet: Er will den Luftraum erobern, er will die Hintergründe der Welt wissen,


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