Unvergessene Jahre. Helmut Lauschke

Unvergessene Jahre - Helmut Lauschke


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geworden ist. Seitdem hat sich Sohn Kurt unsichtbar gemacht und in Schweigen gehüllt, obwohl er aus den Jahren der Grenzwachen nur wenig erzählt hatte, was sich in technischen Grenzen wie Motorschäden, Achsbrüche oder das schwierige Fahren durch hohen Schnee oder auf gefrorener Piste hielt. Ausnahmen waren die Erzählungen vom Angeln von Hechten und Karpfenfischen in den Zuläufen zur Oder, der natürlichen, mit chemischen und anderen Abwässern verschmutzten Friedensgrenze, die sich da romantisch ausnahmen, was Kurt auf zwei Male begrenzte, einmal unweit von Frankfurt an der Oder und das zweite Mal südlich von Stettin mit dem neueren polnischen Namen Szczecin.

      Alfred Lehmann trank die zweite Tasse Kaffee zu Ende mit dem Fensterblick auf die Karl Liebknecht-Straße und den Ernst Thälmann-Platz mit den qualmenden Trabis, den Bussen, den motorisierten und per Fuß zu tretenden Zweirädern auf der nassen Straße und den Fußgängern auf den nassen Gehsteigen. Das Wort “Bürgersteig” war wegen seiner reaktionären Anrüchigkeit so gut wie aus dem Sprachverkehr gezogen worden. Es war der morgendliche Berufsverkehr, dass der beißend scharfe Gestank der Trabis und Zweitakt-Motorräder bis zum Dachgeschoss drang und Alfred Lehmann das Fenster ganz schloss, die ausgetrunkene Tasse auf der Spüle abstellte, den grauen Regenmantel überzog und sich auf den Weg zur Praxis von Dr. Brettschneider machte, um sich neue Schmerztabletten verschreiben zu lassen. Er schloss die Wohnungstür mit den drei kleinen Zimmern sorgfältig ab, drückte noch einmal auf die Klinke, um sicher zu sein, dass die Tür verschlossen war, und ging langsam die schmale Holztreppe mit den quietschenden, muldig ausgetretenen Stufenbrettern herunter. Im schmalen Flur des Erdgeschosses öffnete er den kleinen Briefkasten, der seit Monaten bis auf die regelmäßigen Zahlungsforderungen der Bezirksverwaltung ‘Stadt’ für Strom und Wasser keine persönlichen Briefe enthielt, die erwähnenswert wären.

      Er legte die alte, renovierungsbedürftige Haustür bedächtig ins Schloss und machte sich auf den Weg. Wegen der Nässe hatte sich Alfred Lehmann auch die Schuhe angezogen, die vom Schuster Schlechtriem vor zwei Wochen mit neuen Sohlen und Absätzen bezogen wurden, um ein Ausrutschen zu vermeiden, was er mit den Rückenschmerzen schwer verkraften würde. Auf den Kopf hat er die abgegriffene schwarze Baskenmütze gesetzt, ein Erbstück seines Onkels Karl, der es ihm in einer Kriegsweihnacht geschenkt hatte, bevor er an der Ostfront gefallen war. Der feine Regen nässte das Gesicht, dass er in Abständen mit der bloßen Hand durch das Gesicht fuhr. Das Nass tropfte von der Nase, als er die Arztpraxis erreichte, die im Stadtzentrum, genauer in der Rosa Luxemburg-Straße nicht weit vom Platz mit dem Namen ‘Platz der Revolution’, gelegen war. Das Wort ‘Revolution’ bezog sich nicht auf die französische sondern auf die ‘glorreiche’ russische Oktoberrevolution. Alfred Lehmann nahm die Baskenmütze vom Kopf und schlug sie einige Male gegen den grauen Regenmantel, bevor er die Tür zur Praxis öffnete und wieder schloss und die wenigen Schritte zur Rezeption nahm. Die nicht mehr junge Sprechstundenhilfe saß mit blassem Gesicht und einer schmalen Nase hinter dem schmalen Tisch und blätterte in der Kladde, in der sie Namen auf beschriebenen Blattseiten durchstrich, andere Namen unten hinzufügte oder auf eine der nächsten leeren Blattseiten schrieb. Das Telefon klingelte, und Frau Speer, das war der sportbezüglich und deutsch-geschichtlich besondere Name der Sprechstundenhilfe, nahm den Hörer ab, ohne den Blick von den Kladdenblättern zu nehmen.

      Alfred Lehmann stand geduldig vor dem schmalen Schreibtisch und kam nicht umhin, das Telefonat insoweit mitzuverfolgen, dass Frau Speer den Namen des Anrufers nannte, davon sprach, dass der Doktor in den nächsten Tagen ausgebucht sei, obwohl die folgenden Kladdenblätter nur wenige Namen trugen oder noch ganz leer waren. Frau Speer beendete das Telefonat und trug den Namen des Anrufers auf einer völlig leeren Blattseite ein, was nach Zahl der vorwärts geblätterten Seiten gut eine Woche später bedeutete. Der Hörer war aufgelegt und der Name notiert, als Frau Speer mit blassem Gesicht und fad-blauen Augen aufsah und den ‘guten Morgen’ erwiderte, den ihr Alfred Lehmann nach Abklopfen der nassen Baskenmütze und gleich beim Eintreten gewünscht hatte. “Sie kommen sicher wegen der Schmerztabletten”, sagte sie mit hellseherischer Bestimmtheit, die die volle Zustimmung von Alfred Lehmann fand. “Sie sagen es, die Schmerzen nehmen mir den Schlaf”, sagte er. Frau Speer machte sich eine Notiz und sagte, dass er am Nachmittag das Rezept abholen solle. Alfred Lehmann fragte, ob da nicht mehr zu machen sei. “Wie meinen Sie das?”, fragte die Sprechstundenhilfe zurück, ohne ihr blasses Gesicht mit den fad-blauen Augen vom Papier auf dem schmalen Tisch zu nehmen. “Ich meine, sollte nicht mal ein Spezialist nach meinem Rücken schauen?”, antwortete er. “Das müssen Sie den Doktor fragen”, war die Antwort. Alfred Lehmann blickte auf die leeren Stühle im angrenzenden Wartezimmer und fragte, ob er den Arzt sprechen könne. Frau Speer sagte, dass Dr. Brettschneider in der Poliklinik beschäftigt sei und dass ein Termin vereinbart werden müsse, um ihn zu sprechen beziehungsweise ihm die Frage bezüglich eines Rückenspezialisten zu stellen. Alfred Lehmann dachte an neue Röntgenaufnahmen der Hals- und Lendenwirbelsäule, da die alten Aufnahmen mehr als zwei Jahre zurücklagen. Er unterließ es, das Gespräch in dieser Richtung zu vertiefen und sagte mit Blick auf das dauergewellte dunkelblonde Haar der Frau Speer, dass er am Nachmittag wiederkommen werde, um das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen. “Das geht in Ordnung”, erwiderte die Sprechstundenhilfe im herben Ton der subalternen Bestimmtheit und setzte das Vor- und Zurückblättern in der Kladde fort.

      Alfred Lehmann verließ die Praxis, schloss die Praxistür und setzte sich die abgegriffene, nasse Baskenmütze, das kriegsweihnachtliche Geschenk seines Onkels Karl, wieder auf den Kopf. Der Regen nieselte weiter vor sich hin und nässte von neuem das Gesicht, dass er sich mit der bloßen Hand dann durch das Gesicht fuhr, wenn das Nass wie aus dem Kränchen von der Nase zu tropfen begann. Er machte noch einen Schlenker durch die Stadt und hatte sich vorgenommen, einen Bekannten in der Geschwister Scholl-Straße, einer kleinen Nebenstraße hinter dem ‘Platz der Revolution’ zu besuchen, den er vor einigen Jahren bei seinen Spaziergängen durch den kleinen Buchenwald außerhalb der Stadt kennengelernt hatte, als es mit dem Rücken noch besser ging. Der kleine Buchenwald hat seinen Namen behalten. Auf der rechts vom Weg zum Waldeingang aufgestellten Tafel von einer Größe von fünfzig mal fünfunddreißig Zentimetern stand geschrieben: “Im Gedenken der Opfer gegen den Nazi-Faschismus”. Alfred Lehmann wusste, dass der Bekannte so wie er selbst Mitglied der Partei mit dem ovalen Abzeichen mit dem Handschluss war und stellte sich daher auch die Frage, ob dieser Buchenwald spazierende Bekannte über die Parteimitgliedschaft hinaus noch weitere antifaschistische Horch-Aktivitäten betrieb, was aus den Gesprächen beim Nebeneinanderspazieren, die von seiner Seite deshalb behutsam geführt wurden, nicht herauszuhören waren. Er überquerte den ‘Platz der Revolution’, bog von der breiten ‘Straße des Widerstands’ in die dritte Nebenstraße, die Geschwister Scholl-Straße, links ab und blieb vor der Haustür mit der Nummer 17 und dem abblätternden fleckigen Grauputz stehen. Er drückte auf den Klingelknopf zum zweiten Obergeschoss und streifte mit der anderen Hand das Nass von der Baskenmütze. Er drückte das zweite Mal auf den Klingelknopf, als ein Fenster im zweiten Obergeschoss geöffnet wurde, und der Kopf von Otto Schulte mit dem grau-fahlen Gesicht eines gealterten Mannes mit schütterem Weißhaar und Stirnglatze von oben nach unten zum Hauseingang blickte.

      “Ach Sie sind es, Lehmann. Ich drücke den Türöffner”, sagte Otto Schulte, zog den Kopf zurück, schloss das Fenster und drückte von oben den Türöffner. Alfred Lehmann schlug die nasse Baskenmütze einige Male gegen den Regenmantel, fuhr mit der Hand über das Haar und nasse Gesicht, legte die Haustür ins Schloss und nahm die Schritte durch den schmalen Flur im Erdgeschoss mit der Baskenmütze in der linken Hand. Er spürte beim Steigen der schmalen Treppe mit den muldig ausgetretenen Holzplanken den stechenden Rückenschmerz mit dem Muskelkrampf bis in beide Lenden, dass er mit der rechten Hand am Geländer entlangfuhr. “Das ist heute kein Wetter für den Buchenwald”, begrüßte ihn oben Otto Schulte vor der halb geöffneten Wohnungstür. “Kommen Sie rein. Den nassen Mantel legen Sie am besten über das Geländer”, fügte Otto Schulte der Vorsicht halber hinzu. Alfred Lehmann folgte der Hinzufügung, zog den grauen Regenmantel vor der Wohnungstür aus und legte ihn über das Geländer, das weiter zur Dachgeschosswohnung führte. So tropfte das Nass vom Kragen, den Mantelsäumen und Ärmelenden vom zweiten Obergeschoss den schmalen Treppenschacht herab bis zum Erdgeschoss.

      Otto Schulte hatte den mitspazierenden Weggefährten durch den Buchenwald in besseren Tagen in das beengte Wohnzimmer geführt


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