Jenseits von Gut und Böse. Friedrich Wilhelm Nietzsche

Jenseits von Gut und Böse - Friedrich Wilhelm Nietzsche


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cujus est natura sensus assoupire.

      Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage »wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« durch eine andre Frage zu ersetzen »warum ist der Glaube an solche Urteile nötig?« – nämlich zu begreifen, daß zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urteile sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich: synthetische Urteile a priori sollten gar nicht »möglich sein«: wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urteile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nötig, als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört. – Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche »die deutsche Philosophie« – man versteht, wie ich hohe, ihr Anrecht auf Gänsefüßchen? – in ganz Europa ausgeübt hat, so zweifle man nicht, daß eine gewisse virtus dormitiva dabei beteiligt war: man war entzückt, unter edlen Müßiggängern, Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und politischen Dunkelmännern aller Nationen, dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz – »sensus assoupire«...

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      Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu den bestwiderlegten Dingen, die es gibt; und vielleicht ist heute in Europa niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr außer zum bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen – dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsamt dem Polen Kopernikus, bisher der größte und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während nämlich Kopernikus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, daß die Erde nicht feststeht, lehrte Boscovich dem Glauben an das letzte, was von der Erde »feststand«, abschwören, dem Glauben an den »Stoff«, an die »Materie«, an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom: es war der größte Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist. – Man muß aber noch weiter gehen und auch dem »atomistischen Bedürfnisse«, das immer noch ein gefährliches Nachleben führt, auf Gebieten, wo es niemand ahnt, gleich jenem berühmteren »metaphysischen Bedürfnisse« – den Krieg erklären, einen schonungslosen Krieg aufs Messer – man muß zunächst auch jener andern und verhängnisvolleren Atomistik den Garaus machen, welche das Christentum am besten und längsten gelehrt hat, der Seelen-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Unteilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nötig, »die Seele« selbst dabei loszuwerden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum daß die an »die Seele« rühren, sie auch verlieren. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie »sterbliche Seele« und »Seele als Subjekts-Vielheit« und »Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte« wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte, hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Öde und ein neues Mißtrauen hinausgestoßen – es mag sein, daß die älteren Psychologen es bequemer und lustiger hatten –: zuletzt aber weiß er sich eben damit auch zum Erfinden verurteilt – und, wer weiß? vielleicht zum Finden. –

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      Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.

      – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inkonsequenz Spinozas –). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich Prinzipien-Sparsamkeit sein muß.

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      Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muß auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, überzeugend – es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volkstümlichen Sensualismus. Was ist klar, was »erklärt«? Erst das, was sich sehen und tasten läßt – bis so weit muß man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war – vielleicht unter Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren Triumph darin zu finden wußten, über diese Sinne Herr zu bleiben: und dies mittelst blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den bunten Sinnen-Wirbel – den Sinnen- Pöbel, wie Plato sagte – warfen. Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns die Physiker von heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Prinzip der »kleinstmöglichen Kraft« und der größtmöglichen Dummheit. »Wo der Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts mehr zu suchen« – das ist freilich ein andrer Imperativ als der Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter grobe Arbeit abzutun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag.

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      Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muß man darauf halten, daß die Sinnesorgane nicht Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie: als solche könnten sie ja keine Ursachen sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Prinzip. – Wie? und andre sagen gar, die Außenwelt wäre das Werk unsrer Organe? Aber dann wäre ja unser Leib, als ein Stück dieser Außenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber dann wären ja unsere Organe selbst – das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, daß der Begriff causa sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die Außenwelt nicht das Werk unsrer Organe –?

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      Es gibt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, daß es »unmittelbare Gewissheiten« gebe, zum Beispiel »ich denke«, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauers war, »ich will«: gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als »Ding an sich«, und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Daß aber »unmittelbare Gewissheit«, ebenso wie »absolute Erkenntnis« und »Ding an sich«, eine contradictio in adjecto in sich schließt, werde ich hundertmal wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen! Mag das Volk glauben, daß Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der Philosoph muß sich sagen: wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz »ich denke« ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegnen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, – zum Beispiel, daß ich es bin, der denkt, daß überhaupt ein Etwas es sein muß, das denkt, daß Denken eine Tätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, daß es ein »Ich« gibt, endlich, daß es bereits feststeht, was mit Denken zu bezeichnen ist – daß ich weiß, was Denken ist. Denn wenn ich nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich abmessen, daß, was eben geschieht, nicht vielleicht »Wollen« oder »Fühlen« sei? Genug, jenes »ich denke« setzt voraus, daß ich meinen augenblicklichen Zustand mit andern Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche,


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