Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze

Nachtmahre - Christian Friedrich Schultze


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wie denkst du darüber?“

      Wauer erzählte von seinem Erlebnis am Nachmittag, von der Straße der Gehenkten zwischen Neutucheband und Weinberg. „Ich denke, dass es nur rückwärts gegangen ist, seit der Führer das Oberkommando selbst übernommen hat.“

      „Und das in doppeltem Sinne. Erst kam der idiotische römische Gruß, und dann haben wir beim Rückzug gesehen, was die ss inzwischen im Hinterland getrieben hatte, während vorn unsere besten Kameraden draufgegangen sind.

      Das haben doch nicht nur wir gesehen! Ist das, was darauf folgte, noch ein Wunder? Ich staune nur, dass die Wehrmachtsführung sich das alles so gefallen lässt und die ganze Clique nicht längst zum Teufel geschickt hat.“

      „Die sind eben so wie wir“, sagte Mosig und lächelte dabei sauer.

      „Wie denn; wie sind wir denn?“

      „Getreu dem Fahneneid und einig mit den Brüdern in unserer Angst vor dem Bolschewismus.“

      Wauer schwieg. Irgendwie hatte der Alte den Nagel auf den Kopf getroffen.

      „Ja, so ist das, Kamerad“, für Mosig fort. „Aber jene gewinnen. Und wir sollten allmählich daran denken, was wir machen, wenn der Russe uns hier überrollt hat.“

      „Wenn wir dann noch leben“, warf Wauer ein.

      „Du schon, weil du übermorgen auf Sondermission gehst. Das heißt, wenn es nicht gerade vorher losgeht.

      Auf dem Rückweg habe ich dem Alten eine Bitte von mir vorgetragen. Er fuhr ein Stück mit, um sich irgendwas in Neutrebbin selber anzusehen, das ergab sich so. Er selbst suchte auch jemanden Zuverlässigen, der ihm ein paar persönliche Sachen nach Berlin schafft, um sie seiner Frau zu übergeben. Die Bombenangriffe werden dort übrigens jeden Tag schlimmer, und es soll schon sehr viel kaputt sein. Die Papiere hatte er schon fertig. Wir brauchten nur noch deinen Namen einzusetzen. Wie findest du das?“

      Wauer schwieg und sah den Major an.

      „Du nimmst Verbindung mit Teilen des elften Panzerkorps auf, die irgendwo südlich von Berlin zusammengezogen wurden. Mit denen sollen wir uns verbinden, wenn wir den Befehl kriegen, hier abzuhaun. Du sucht dort einen Major Kneip, dem übergibst du die Papiere. Und dann gehst du in Richtung Torgau, wie ich es dir gesagt habe.

      Der Alte denkt, dass es innerhalb der ersten zehn Tage des April hier losgehen wird. Allzulange kann der Russe nämlich nicht mehr warten, sonst ist der Ami eher in Berlin als er. Wenn wir uns fünf Tage hier halten und dann nochmal fünf Tage brauchen, um südlich an Berlin vorbei in Richtung Elbe zu kommen, kannst du uns um den fünfzehnten herum in der Nähe Torgaus erwarten. Du hast also allerhand Zeit.“

      „Warum machst du das alles?“

      „Menschenskind, weil auch ich wider alle Vernunft auf ein DANACH hoffe! Ich will mir alle Mühe geben, um das hier zu überleben. Aber wenn das nicht klappen sollte, sind für diesen Fall noch ein paar Dinge zu regeln, und dazu brauche ich deine Hilfe ebenfalls.

      Was du nämlich noch nicht weißt, ist, dass meine Frau jetzt in Zittau im Haus meiner Eltern wohnt. Und die Mutter deiner Frau lebt doch in Oybin, stimmt`s?“

      „Ja, woher weißt du das?“

      „Hast du mal erwähnt, als du über deinen letzten Urlaub sprachst, und ich hab`s mir gemerkt. Deshalb kam mir vor ein paar Tagen die Idee, dass deine Frau, wenn da Kind erst da ist, doch mal zu ihrer Mutter nach Oybin fahren wird. Ich gebe dir auf deine Reise ein paar persönliche Dinge von mir und einen Brief mit. Was hältst du davon?“

      „Das ist gut, das lässt sich machen. Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.“

      „Weiß ich, Karl.“

      Der Major hatte Wauer das erste Mal beim Vornamen genannt.

      Die Männer sahen sich schweigend an.

      „Hoffentlich kann ich alles schleppen, und es geht nichts verloren“, sagte der Oberleutnant.

      „Na, so viel ist es nicht. Ist ja schon genug verlorengegangen auf dem Rückzug. Genaugenommen kommt`s darauf auch gar nicht mehr an. Mach dir übrigens nichts draus, dass du hier nicht dabeisein wirst. Auch wenn einige Kameraden sauer sein werden. Denk an das Kind und ein bisschen an die Zukunft! So, und jetzt nehmen wir noch einen Letzten auf die hoffentlich glückliche Geburt deines Nachwuchses. Auf dass es ein Junge werde!

      Warte mal, wann hast du ihn überhaupt gemacht?“

      „Na, wann schon: Vorigen Sommer, nach meiner letzten Verwundung, als ich auf Genesung in Berchtesgaden war“, erwiderte Wauer.

      „Also gut. Hau jetzt ab!“

      Die beiden Männer standen auf. Einen Moment verharrten sie, sich in die Augen sehend. Plötzlich umarmte der Major den Oberleutnant und schlug ihm mehrmals kräftig auf den Rücken. Wauer spürte Mosigs Bartstoppeln auf seiner tadellos rasierten Wange. Als er sein Gesicht zurückzog, schienen ihm die Ringe unter den Augen des Alten noch dunkler, fast schwarz.

      Der Abschied war schwer, aber sie weinten nicht. Tränen hatten sie nach alledem längst nicht mehr.

      Wauer machte kurz kehrt und verließ schnell den Unterstand, um in seine Stellung zu gehen. Die frische, kühle Abendluft schlug ihm entgegen. Es war nun ganz dunkel. Auf dem Weg begegnete er Leutnant Kunze, dessen mürrischer Blick ihn traf.

      Der Himmel war sternklar. Es war sehr stell ringsum. Nur von ganz weit, jenseits der Oder, drang undeutliches Motorengebrumm herauf. Die Russen führten im Schutz der Nacht weiteres Material heran. So ging das nun seit Wochen.

      Wie lange noch...

      Die Hügelkette der Endmoränen bei Reitwein hob sich schwarz gegen den dunkelblauen Nichthimmel. Dahinter begann das Tal der Oder, dem letzten Strom, der die bereits tief eingedrungen sowjetischen Völker vom Herzen Deutschlands trennte.

      2.

      Was Karl Wauer an jenem Abend im März 1945 nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass von eben diesen Erhebungen bei Reitwein zur gleichen Zeit ein Russe namens Shukow von seinem Befehlsstand der hinter den Seelower Hügeln versinkenden Sonne jenseits des Stromes nachgeblickt hatte. Auch er war von Sorgen erfüllt, weil er wusste, was seine Männer nicht wissen durften: Die verdammten Deutschen hatten eine starke Barriere errichtet, um ihnen den Weg nach Berlin zu versperren. Ihm, Shukow, war klar, warum. Er fühlte, dass er bereits auch gegen Amerikaner kämpfte. Er musste also dort über die Hügel, und zwar bald! Aber noch reichten seine Kräfte nicht aus, um massiv genug durchbrechen zu können und danach schnell weiter vorwärtszukommen. Viel Blut würde noch fließen müssen, bis dieses wahnwitzige Volk endlich in die Knie gezwungen sein würde.

      Warum wurden die einfach nicht vernünftig und gaben endlich auf?

      3.

      Karl Wauer lieferte den Koffer des Obersten pünktlich zum vorgegebenen Treff am vierten April 1945 auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin ab. Er sah dort viel Schreckliches. Er benötigte weitere fünf Tage, um seine Kurierpost loszuwerden und sich anschließend von Teupitz aus nach Süden durchzuschlagen. Am 9. April nachts traf er endlich von Chemnitz kommend in Lugau ein. Die Amerikaner saßen bereits in Hohenstein-Ernstthal, und es war nicht ungefährlich für ihn in seiner deutschen Offiziersuniform. Er musste ständig damit rechnen, von einem amerikanischen Vorauskommando aufgegriffen zu werden, denn es gab kaum noch deutsche Verbände in dieser Gegend. Es wäre sein Glück gewesen, aber damals sah er das ganz anders.

      Er schlich sich deshalb auf Umwegen in sein Haus. Zur Geburt seines Sohnes kam er einen Tag zu spät, und natürlich ärgerte er sich darüber, denn mit einem Quäntchen mehr Glück hätte er es schaffen können. Die junge Mutter empfand es nach dem überwundenen Wiedersehensschock dagegen als ein Wunder Gottes, das ihr ungeheure Kraft verlieh. Für Jahre, wie sich bald herausstellte.

      Karl Wauer nahm sich aber lediglich die Zeit,


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