Der Geheimagent. Joseph Conrad

Der Geheimagent - Joseph Conrad


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den Hals tief entblößt, führte er von Zeit zu Zeit eine Zigarette Übersetzungsfehler in einer langen Holzspitze zum Mund und blies Rauchkringel zur Decke hinauf.

      Michaelis baute seinen Gedanken weiter – den Gedanken seiner Haftjahre, den Gedanken, der ihm den Kerker erträglich gemacht hatte und in ihm wie eine Offenbarung gewachsen war. Er sprach vor sich hin, gleichgültig für die Zu- oder Abneigung seiner Hörer, gleichgültig sogar für ihre Gegenwart, einfach aus der Gewohnheit heraus, hoffnungsfroh zwischen den vier weißgekalkten Wänden seiner Zelle laut vor sich hinzudenken, in das tote Schweigen des riesigen Ziegelblocks hinein, der düster und häßlich neben einem Flusse aufragte, wie ein Grabmal für die Schiffbrüchigen der Gesellschaft.

      Er taugte nicht zum Wortstreit, aber nicht etwa deswegen, weil irgendein Beweismittel seinen Glauben hätte erschüttern können, sondern darum, weil der bloße Klang einer anderen Stimme ihn schmerzlich verwirrte und seine Gedanken sofort durcheinander brachte – diese Gedanken, die so lange, in einer geistigen Einsamkeit, ärger als die einer wasserlosen Wüste, keine lebendige Stimme bekämpft, beurteilt oder gebilligt hatte.

      Nun unterbrach ihn niemand mehr, und wieder legte er sein Glaubensbekenntnis ab, das ihn unwiderstehlich wie eine Offenbarung erfüllte: die Erklärung des Weltsinnes aus der dinglichen Seite des Lebens; die wirtschaftlichen Verhältnisse der Welt, verantwortlich für die Vergangenheit und Träger der Zukunft; zugleich auch die Quelle aller Geschichte, aller Gedanken, maßgebend für die geistige Entwicklung der Menschheit, und Triebfeder aller Leidenschaften. –

      Ein mißtöniges Lachen des Genossen Ossipon schnitt den Redestrom kurz ab, die Zunge des Apostels stockte, und in seine milde glühenden Augen trat der Ausdruck verwunderter Unsicherheit. Er ließ einen Augenblick lang die Lider sinken, als wollte er seine Gedanken sammeln. Schweigen trat ein; inzwischen hatten aber die zwei Gasflammen über dem Tisch und die Glut im Kamin das kleine Wohnzimmer hinter Herrn Verlocs Laden schrecklich überheizt. Herr Verloc erhob sich widerstrebend und schwerfällig vom Sofa, öffnete die Tür zur Küche, um mehr Luft einzulassen und entdeckte dabei den harmlosen Stevie, der gut und brav an dem Fichtentisch saß und Kreise, Kreise, Kreise zeichnete; unzählige Kreise, konzentrisch, exzentrisch; einen Wirbel von Kreisen, alle von gleicher Größe, die durch das Gewirr ihrer Verschneidungen an ein kosmisches Chaos gemahnten, an den Versuch einer wahnsinnigen Kunst, das Unfaßbare darzustellen. Der Künstler wandte den Kopf nicht; in der leidenschaftlichen Hingabe an sein Beginnen bebte sein Rücken, und sein dünner Hals, der aus der tiefen Höhlung an der Schädelbasis hervorwuchs, schien abbrechen zu wollen.

      Herr Verloc grunzte, unliebsam überrascht, und kehrte zu dem Sofa zurück. Alexander Ossipon erhob sich, ganz schlank unter der niedrigen Decke, in seinem abgetragenen blauen Tuchanzug, reckte sich nach dem langen Stillsitzen und schlenderte in die Küche (zwei Stufen tiefer), um Stevie über die Schulter zu sehen. Er kam zurück und orakelte: »Sehr gut. Sehr charakteristisch, ganz typisch.«

      »Was ist sehr gut?« knurrte Herr Verloc, der sich wieder im Sofa zurecht gesetzt hatte. Der andere setzte seine Meinung nachlässig auseinander, mit deutlicher Herablassung und einer Kopfbewegung nach der Küche hin.

      »Typisch für diese Form der Entartung – die Zeichnungen, meine ich.«

      »Wollen Sie sagen, daß der Junge entartet ist?« murmelte Herr Verloc.

      Genosse Alexander Ossipon – mit dem Spitznamen »der Doktor«, gewesener Mediziner ohne akademischen Grad; darnach Wanderlehrer in Arbeitervereinen über die soziale Zukunft der Hygiene; Verfasser einer halbwissenschaftlichen Abhandlung (in Gestalt eines billigen Schmökers, der von der Polizei sofort beschlagnahmt worden war), betitelt »Die fressenden Laster der Bürgerklasse«; Delegierter für literarische Propaganda des mehr oder weniger geheimnisvollen Roten Komitees, zusammen mit Karl Yundt und Michaelis, – Ossipon also wandte dem geheimen Vertrauten von mindestens zwei Gesandtschaften jenen Blick voll unerträglichen und unerschütterlichen Dünkels zu, den nur die Beschäftigung mit der Wissenschaft in das Auge eines Sterblichen zu bringen vermag.

      »So wäre er wissenschaftlich zu bezeichnen. Er zeigt sogar alle typischen Merkmale seines Falles. Man braucht nur seine Ohrläppchen anzusehen. Wenn Sie Lombroso lesen –«

      Herr Verloc saß mürrisch und breit auf dem Sofa und fuhr fort, über die Reihe seiner Westenknöpfe hinunterzusehen; in seine Wangen aber stieg ein leichtes Rot. In letzter Zeit hatte selbst die entfernteste Erwähnung des Wortes »Wissenschaft« (ein Wort, das an sich gewiß harmlos und von dehnbarer Bedeutung ist) die merkwürdige Folge, daß ihm sofort, mit fast unnatürlicher Schärfe das lebhafte Bild des Herrn Vladimir vor Augen trat und ausgesprochen feindliche Gefühle in ihm weckte. Und dieses Phänomen, das billigerweise auf wissenschaftliche Würdigung Anspruch machen konnte, versetzte Herrn Verloc in einen Zustand zwischen Furcht und Verzweiflung, mit der Neigung, sich in heftigem Fluchen Luft zu machen. Er sagte aber nichts. Nur Karl Yundt ließ sich hören, unversöhnlich bis zum letzten Atemzug.

      »Lombroso ist ein Esel!«

      Genosse Ossipon ertrug diese erschütternde Lästerung mit furchtbar leerem Blick. Dem anderen lagen die erloschenen, glanzlosen Augen tief dunkel im Schatten der großen, knochigen Stirne; er murmelte und schnappte nach jedem zweiten Wort mit den Lippen nach der Zungenspitze, als wollte er sie ärgerlich zerkauen:

      »Ist Ihnen jemals ein solcher Schwachkopf vorgekommen? Für ihn ist der Gefangene der Verbrecher; ganz einfach, nicht wahr? Was aber ist es mit denen, die ihn eingesperrt – hineingezwungen haben? Jawohl, hineingezwungen haben! Und was ist Verbrechen? Weiß er das, dieser Trottel, der seinen Weg in dieser Welt voll gesegneter Narren gemacht hat, indem er auf Ohren und Zähne von ein paar unglücklichen Teufeln sah! Zähne und Ohren kennzeichnen den Verbrecher? Wirklich? Und was ist es mit dem Gesetz, das ihn noch weit besser kennzeichnet – das nette Brandeisen, das die Überfütterten erfunden haben, um sich gegen die Hungrigen zu schützen? Rotglühend auf ihr elendes Fell gebracht – wie? Riechen Sie nicht, hören Sie nicht von hier aus, wie der dicke Qualm von Menschenfleisch aufzischt? So werden Verbrecher gemacht, damit deine Lombrosos ihren Blödsinn darüber schreiben können.«

      Sein Stockgriff zitterte mit seinen Beinen um die Wette, während der Rumpf, in die Flügel des Havelocks gehüllt, in seiner bekannten kühnen Haltung verblieb. Er schien die von der Gesellschaft erfundenen Foltern zu wittern, ihrem Geräusch angestrengt zu lauschen. Seine ganze Haltung strömte eine eigenartig zwingende Stimmung aus. Der jetzt kaum noch lebendige Veteran aus vielen Dynamitkriegen war seinerzeit ein großer Charakterdarsteller gewesen, auf Rednerbühnen, in Geheimversammlungen und in Einzelunterredungen. Der berüchtigte Terrorist hatte übrigens Zeit seines Lebens persönlich nie auch nur den kleinen Finger gegen den Aufbau der Gesellschaft gerührt. Er war kein Mann der Tat; es fehlte ihm sogar die wildbachartige Beredsamkeit, die die Massen in das brausende Gischten der Begeisterung mit fortreißt. Mit gutem Bedacht hatte er für sich die mehr heimtückische Rolle gewählt, die finsteren Triebe zu wecken, die unter dem blinden Neid und der verzweifelten Eigenliebe der Unwissenheit lauern, unter dem Kummer und Leid der Armut, unter all den Zerrbildern gerechten Zorns, Mitleids und Aufruhrs. Der Schatten seiner üblen Gabe hing ihm noch an, wie der Geruch eines tödlichen Giftes einem alten Gefäß, das nun leer ist, nutzlos und reif dafür, auf den Müllhaufen zu wandern, mit anderen Dingen, die ihre Zeit gedient haben.

      Michaelis, der Bewährungsfristapostel, lächelte matt, mit geschlossenen Lippen; sein teigiges Mondgesicht senkte sich in trüber Zustimmung. Er war selbst Gefangener gewesen. Sein eigenes Fell hatte unter dem Brandmal aufgezischt, murmelte er; doch Genosse Ossipon, mit dem Spitznamen »der Doktor«, hatte inzwischen die Erschütterung überwunden.

      »Sie verstehen nicht«, begann er verächtlich, brach aber kurz ab, eingeschüchtert durch die tote Schwärze der Augenhöhlen in dem Gesicht, das sich langsam mit leerem Blick ihm zuwandte, als folgte es nur dem Klange. Er gab das Gespräch mit einem leichten Achselzucken auf.

      Stevie, der es gewöhnt war, herumzugehen, ohne beachtet zu werden, war vom Küchentisch aufgestanden und wollte seine Zeichnung mit ins Bett nehmen. Er war gerade rechtzeitig in die Wohnzimmertür getreten, um Karl Yundts bilderreichen Wortschwall mit aller Wucht zu empfangen. Das Blatt mit den vielen Kreisen flatterte ihm aus den Fingern, und er starrte


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