Der Geheimagent. Joseph Conrad

Der Geheimagent - Joseph Conrad


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gefolgt von Stallburschen mit einer Kokarde auf dem Hut und einem Ledergürtel über dem eng sitzenden Leibrock. Wagen rollten vorbei, vor allem zweispännige Kaleschen, dann und wann auch eine Viktoria, mit irgendeinem Raubtierfell darinnen und dem Antlitz und Hut einer Frau über dem zusammengeklappten Wagendach. Und eine eigene Londoner Sonne – gegen die nichts weiter gesagt werden konnte, als daß sie blutunterlaufen aussah – überstrahlte alles das mit ihrem Glanz. Sie hing in mäßiger Höhe über Hyde Park Corner, wie mit pünktlicher und wohlwollender Wachsamkeit. Sogar das Pflaster unter Herrn Verlocs Füßen hatte eine Altgoldtönung in dem gedeckten Licht, in dem weder Mauer, noch Baum, noch Tier, noch Mensch Schatten warf. Herr Verloc schritt nach Westen, durch eine Stadt ohne Schatten, in einer Atmosphäre von zerstäubtem Altgold. Rotkupfrige Glanzlichter lagen auf Hausdächern, auf Mauerecken, auf Wagenwänden, ja sogar noch auf dem Fell der Pferde und auf dem Rückteil von Herrn Verlocs Überzieher, wo sie entfernt wie Rost wirkten. Doch Herr Verloc war sich nicht im entferntesten bewußt, verrostet zu sein. Er verfolgte durch das Parkgitter mit beifälligen Blicken die Schaustellung des Überflusses und Wohllebens der Stadt. Alle diese Leute mußten beschützt werden; Schutz ist das erste Bedürfnis bei Überfluß und Wohlleben. Sie mußten beschützt werden; und ihre Pferde, Wagen, Häuser, Diener mußten beschützt werden, und die Quelle ihres Wohlstandes mußte beschützt werden, im Herzen der Stadt und im Herzen des Landes; die ganze gesellschaftliche Ordnung, die ihnen ihre gesunde Untätigkeit erlaubte, mußte beschützt werden gegen die blanke Mißgunst ungesunder Arbeit. Das mußte sein – und Herr Verloc hätte sich zufrieden die Hände gerieben, wäre er nicht von Natur jeder überflüssigen Anstrengung abhold gewesen. Seine Untätigkeit war nicht gesund, paßte aber gut zu ihm. Er war ihr sozusagen ergeben, mit einer Art von trägem Fanatismus, oder vielleicht eher mit fanatischer Trägheit. Von fleißigen Eltern geboren, für ein Leben voll Arbeit, hatte er sich der Untätigkeit zugewandt, unter einem Antrieb, der so echt wie unerklärlich und nicht minder zwingend war, als der andere, der einen Mann eine bestimmte Frau unter tausend wählen läßt. Sogar für einen bloßen Demagogen, für einen Volksredner, für einen Arbeiterführer war er zu träge; das alles machte zu viel Mühe. Er brauchte eine vollendetere Art von Ruhe; vielleicht auch war er das Opfer eines philosophischen Glaubens an die Unwirksamkeit jeder menschlichen Anstrengung. Eine solche Art von Untätigkeit hat einen gewissen Grad von Intelligenz zur notwendigen Voraussetzung. Daran fehlte es Herrn Verloc nicht – und bei dem Bewußtsein, daß der menschlichen Gesellschaftsordnung Gefahr drohe, hätte er vielleicht sich selbst zugezwinkert, wäre nicht zu diesem Ausdruck von Skepsis eine Anstrengung nötig gewesen. Seine großen, vorstehenden Augen eigneten sich nicht gut zum Zwinkern. Sie waren eher dazu geschaffen, sich feierlich und majestätisch zum Schlummer zu schließen.

      Schlicht und stämmig wie ein Mastschweinchen schritt Herr Verloc seines Wegs, ohne sich zufrieden die Hände zu reiben, oder seinen eigenen Gedanken skeptisch zuzuzwinkern. Er trat mit seinen glänzenden Stiefeln wuchtig das Pflaster und sah, im ganzen genommen, wie ein besserer Handwerker aus, der für sich einen Gang macht. Er konnte alles sein, vom Glaser bis zum Schlosser: ein Arbeitgeber kleinsten Ausmaßes. Doch hatte er auch ein unbeschreibliches Etwas an sich, das kein Handwerker im Lauf seiner Arbeit, und wäre sie noch so unehrlich ausgeübt, erworben haben konnte; dieses Etwas, das allen denen gemeinsam ist, die von den Lastern, den Narrheiten oder niedrigen Ängsten ihrer Mitmenschen leben. Ein Ausdruck innerer Haltlosigkeit, wie ihn die Besitzer von Spielhöllen und verrufenen Häusern zeigen, die Privatdetektive und Spitzel, die Schnapswirte und, ich möchte sagen, auch die Verkäufer von elektrischen Kraftgürteln und die Erfinder von Patentheilmitteln. Dieser letzteren bin ich übrigens nicht ganz sicher, da sich meine Nachforschungen nicht so weit in die Tiefe erstreckt haben; meinetwegen könnte ihr Ausdruck auch ganz teuflisch sein. Es sollte mich nicht überraschen. Was ich aber betonen möchte, ist, daß Herrn Verlocs Ausdruck keineswegs teuflisch war.

      Bevor er Knightsbridge erreichte, bog Herr Verloc nach links ab, aus der breiten Verkehrsstraße, die von dem Hin und Her der schütternden Omnibusse und trabenden Geschäftswagen dröhnte, zwischen die fast lautlos und rasch gleitenden Reihen von Droschken. Unter seinem Hut, den er leicht nach hinten gesetzt trug, hatte er sein Haar sorgsam und ehrbar glattgebürstet, denn er hatte bei einer Gesandtschaft zu tun. Und Herr Verloc, ruhig wie ein Fels – ein harmloser Fels – schritt nun durch eine Straße, die am besten mit dem einen Wort »Privat« gekennzeichnet wäre. In ihrer Breite, Leere und Länge lag die Majestät unbeseelter Natur, einer Sache, die nie vergeht. An die Sterblichkeit gemahnte einzig nur der Wagen eines Arztes, der in erhabener Einsamkeit am Randstein hielt. Die blankgeputzten Türgriffe glänzten von weitem, und die sauberen Fenster gaben dunklen, opalartigen Schein. Und alles war ruhig, nur ein Milchwagen ratterte lärmend durch den fernen Hintergrund; ein Fleischerjunge, der mit der hehren Todesverachtung eines olympischen Wagenlenkers fuhr, sauste um die Ecke, hoch über seinen roten Rädern thronend. Eine schuldbewußte Katze tauchte irgendwo aus den Steinen, rannte eine Zeitlang vor Herrn Verloc her und verschwand dann in einem anderen Kellerloch; und ein dicker Schutzmann, dem jegliche Gemütsbewegung fremd schien, als gehörte auch er zur unbeseelten Natur, tauchte scheinbar aus einem Laternenpfahl hervor, ohne Herrn Verloc im geringsten zu beachten. Mit einer Wendung nach links verfolgte Herr Verloc seinen Weg durch eine enge Gasse längs einer gelben Mauer, die aus unerfindlichem Grunde in schwarzen Buchstaben die Inschrift trug: Nr. 1 Chesham Square. Chesham Square war mindestens sechzig Meter weit weg, und Herr Verloc, Weltmann genug, um sich von Londons geheimnisvollen Ortsbezeichnungen nicht täuschen zu lassen, schritt bedächtig fort, ohne Anzeichen von Überraschung oder Entrüstung. Schließlich erreichte er mit geschäftlicher Beharrlichkeit den Platz und überquerte ihn in der Richtung auf die Nr. 10. Diese prangte an einem gewaltigen Einfahrtstor in der hohen, sauberen Mauer zwischen zwei Häusern, deren eines verständlich genug die Nr. 9 trug, während das andere die Nr. 37 aufwies; die Tatsache aber, daß dies letztere zu Porthill Street gehörte, einer in der Nachbarschaft wohlbekannten Straße, war durch eine Inschrift oberhalb der Erdgeschoßfenster verkündet, dort von der wie immer Namen habenden Behörde angebracht, deren Aufgabe es ist, Londons verirrte Häuser unter Aufsicht zu halten. Warum vom Parlament (eine kurze Anfrage würde genügen) nicht die Machtmittel verlangt werden, diese Gebäude zur Rückkehr an ihren Bestimmungsort zu zwingen, bleibt eines der Geheimnisse städtischer Verwaltung. Herr Verloc beschwerte sich den Kopf nicht damit, da er seine Lebensaufgabe in der Beschirmung der gesellschaftlichen Ordnung sah, nicht in deren Verbesserung oder auch nur Beurteilung.

      Es war so früh am Tage, daß der Pförtner der Gesandtschaft sich noch in den linken Rockärmel hineinarbeitete, als er hastig aus seiner Loge gestürzt kam. Er trug eine rote Weste und Kniehosen, schien aber verwirrt. Herr Verloc merkte den Flankenangriff, wehrte ihn durch den Vorweis eines Briefumschlages mit dem Wappen der Gesandtschaft ab und schritt vorbei. Den gleichen Talisman zeigte er auch dem Diener, der ihm öffnete und zurücktrat, um ihn in die Halle einzulassen.

      Ein helles Feuer brannte in einem hohen Kamin, und mit dem Rücken dazu stand ein älterer Mann im Frack, mit einer Kette um den Hals; er blickte von einer Zeitung auf, die er mit beiden Händen vor seinem ruhigen, ernsten Gesicht ausgebreitet hielt, rührte sich aber im übrigen nicht; doch ein anderer Lakai, in braunen Hosen und Frack mit schmalen gelben Litzen, näherte sich Herrn Verloc, lauschte auf den gemurmelten Namen, wandte sich schweigend und begann davonzugehen, ohne sich ein einzigesmal umzusehen. Herr Verloc, der so durch einen Flur zu ebner Erde, links von dem teppichbelegten Stiegenhaus geführt wurde, sah sich plötzlich in einem ganz engen Raum, der als Einrichtung nur einen schweren Schreibtisch und einige Stühle aufwies. Der Lakai schloß die Türe, und Herr Verloc blieb allein. Er setzte sich nicht; Hut und Stock in einer Hand blickte er umher und strich sich mit der freien Polsterhand über den glatt gebürsteten Kopf.

      Eine andere Türe ging lautlos, und Herr Verloc sah starr in ihre Richtung, konnte aber zunächst nur einen schwarzen Anzug, einen kahlen Schädel und einen wehenden grauen Backenbart wahrnehmen, der zu beiden Seiten zweier runzliger Hände niederfiel. Die Persönlichkeit, die eingetreten war, hielt sich einen Pack Papiere vor die Augen, schritt etwas zimperlich zum Tisch und sah sich dabei um. Der Geheime Staatsrat Wurmt, Siegelbewahrer der Gesandtschaft, war sehr kurzsichtig; dieser verdiente Beamte legte die Papiere auf den Tisch und enthüllte dabei ein teigfarbenes Gesicht von trauriger Häßlichkeit, umgeben von reichen, langen, dunkelgrauen Haaren und nach oben von dicken, buschigen Brauen schwer abgeschlossen.


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